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Der Vater sagt, er sei Gott. Der Vater schlägt die Mutter. Die beiden haben sieben Kinder, sechs Jungs und ein behindertes Mädchen. Vierzehn Jahre lang sperren sie die Kinder zuhause ein. In sechs Zimmern in einem heruntergekommenen Hochhaus in der Lower East Side von Manhattan. Die Mutter ist Lehrerin, unterrichtet ihre Kinder und kann dafür Geld beziehen.
Oscar Angula, der Vater, verlor einst seinen Verstand als Hare-Krishna-Jünger, arbeitet nicht und säuft. Er hat den Traum, mit seiner Familie Musik zu machen und damit später berühmt zu werden. Doch sein Traum von der Aufzucht eines menschlichen Wolfsrudels in totaler Isolation ist noch grösser. Ist monströs. Zum Glück haben die Kinder einander. Und Filme. Tausende von Filmen. Sie schreiben die Dialoge vom Bildschirm ab, schreiben sich ganze Drehbücher zusammen, lernen auswendig, spielen nach, basteln sich aus Altkleidern und Altpapier Kostüme, Kulissen, Masken, Waffen.
Besonders lieben sie fantasievolle Gewaltfilme, Tarantino, Friedkin («The Exorcist») und Rodriguez sind ihre Helden, doch sonst sind sie sanfte Geschöpfe, enorm liebenswürdig, verschroben, klug, aber Gefangene. Bis sich einer von ihnen auf die Strasse wagt, in einer Mike-Myers-Maske, sofort verhaftet und in die Psychiatrie zu suizidgefährteten Kids gesteckt wird. Er hat Spass dort. Zuhause bricht er mit dem Vater. Und die Brüder brechen aus. Immer in der Gruppe. In schwarzen Anzügen und mit selbstgebastelten Waffen. Draussen fühlen sie sich «wie in einem 3D-Film». Jeder ihrer Ausflüge endet zuhause, ihrer Mutter zu Liebe.
Bei einem ihrer Spaziergänge sieht sie Crystal Moselle, eine Filmemacherin, spricht sie an, die Filmfreaks freunden sich miteinander an, und über fünf Jahre dreht Moselle «The Wolfpack», den Aufsehen erregendsten, kuriosesten Dokfilm dieses Jahres. Denn Moselle besucht den Bau der jungen Wölfe, filmt Eltern und Kinder, die ganze Geschichte eines Wahnsinns, der nur Dank Hollywood nicht zur Katastrophe wurde.
Hollywood ist für die Angulo-Kinder Himmel, Rettung, Flucht, Ventil – und Therapie-Sitzungen ohne Ende. Gemeinsam schaffen sie sich selbst eine kleine Traumfabrik. Ihr Batman trägt ein Kostüm aus Yogamatten und Cornflakes-Schachteln. Die Eltern wehren sich nicht gegen Moselles Dreharbeiten, für die Brüder ist der Film ein Geschenk, denn er katapultiert sie Anfang 2015 via Sundance Festival ins glühende Herz der Filmwelt. Drei von ihnen sind schon auf direktem Weg in die Filmbranche.
Schöner könnte es gar nicht laufen. Und wir sitzen da und denken: Danke, Kino. Und bleiben sitzen. Denn da ist bereits der zweite Dokfilm-Wurf, auch er mit einem bestimmenden Vater, aber keinem sonderbaren, sondern bloss einem besonderem.
Dieser Vater ist ein verfressener Gott. Er liebt die Mutter. Unendlich. Die beiden haben zwei Kinder. Der Vater schreibt, zuerst um zu überleben, dann ist es das Leben, dann um sein Leben, die Kinder sehen so wenig von ihm, dass sie erst mit dem Tod der Mutter merken, dass da überhaupt ein Vater ist.
Jedenfalls sagen sie das so überspitzt in «Dürrenmatt», einem dokumentarischen Essay über das Schriftsteller-Monument Friedrich Dürrenmatt von Sabine Gisiger. Seither haben sie die Überspitztheit schon wieder ein wenig zurückgenommen, es sei eine ganz «normale» Kindheit gewesen, sagte Ruth Dürrenmatt im «Magazin». Im Film ist alles ein bisschen extremer als normal, man nennt das Dramaturgie, und sie macht, dass einem «Dürrenmatt» einfährt wie ein rundum beglückendes Entrecôte.
Denn «Dürrenmatt» ist das, was Friedrich der Grösste von allem am meisten liebte, nämlich eine Berner Platte von einem Film: Üppig, deftig, garniert mit beissendem Witz und süsser Liebe. Und so weise, dass man weiss: Die Schweiz sollte sich ganz dringend wieder mehr auf ihren Dürrenmatt besinnen.
Aber das Grösste im Film ist die Liebe. Die machte, dass Dürrenmatt nur ein Jahr nach dem Tod seiner geliebten Lotti mit einer Charlotte zusammenkam. Dürrenmatt und das doppelte Lotti. Und nachdem auch er und das zweite Lotti gestorben waren, da fanden sich schliesslich die Urnen von allen dreien unter dem gleichen Baum. Zur diebischen Freude der Kinder – die übrigens Dürrenmatt nicht nur aus dem Gesicht, sondern auch aus dem Leib geschnitten sind – wusste das zweite Lotti, als es sein Testament schrieb, aber nichts von der Existenz der Urne des ersten Lotti unter dem Baum. Sie lieben die Scherze, die Dürrenmatts.
Und wenn wir ganz genau hinschauen im Kino, dann sehen wir, dass die selbstgebastelten Welten der Angulo-Brüder den Bildern, die Dürrenmatt neben seinen Büchern malte, verblüffend gleichen: Geniale Träumer gebären märchenhafte Monster. Und Erzählungen über uns und unsere Welt, die grösser sind als alles, was wir kennen. Sei es im Kino oder in einer anderen Kunst. Danke.