Es ist Sonntag Morgen, acht Uhr. Das Konzert endet, wie jedes andere auch. Die Zuhörer sitzen und stehen gezwungen aufrecht auf ihren Plätzen, streicheln ihre Smartphones und machen Videos. Statt nach verschüttetem Bier schmeckt es hier nach ungewaschenen Menschen. Der Applaus ist dürftig. Eine Zugabe will keiner.
«Das Alien-Gejodel der Sängerin verhinderte jede Chance auf einen anständigen Schlaf», höre ich einen Typen drei Betten links wettern. «Ich bin noch nie so traumhaft aufgewacht. Das war der beste Snooze-Modus, den man sich überhaupt vorstellen kann.», erzählt mir die Bekanntschaft, die ich vor zehn Stunden im Rauchersektor gemacht habe beim ersten Glimmstängel nach Konzertende.
Spulen wir aber erstmal zehn Stunden zurück. Es ist kurz vor zehn Uhr Abends. Pärchenweise stehen Menschen mit grosszügigem Abstand voneinander entfernt vor dem Eingangsbereich der Halle 622 in Zürich Oerlikon. Mütter mit ihren Söhnen, Partnerinnen und Partner und beste Freunde studieren mit verdrückter Miene die Konzertbroschüre:
«Ein achtstündiges Stück, der Nacht und dem Schlaf gewidmet. Dafür hat sich Max Richter intensiv mit besagtem Thema auseinandergesetzt, holte unter anderem Rat beim berühmten US-Neurowissenschaftler David Eagleman ein und komponierte darauf schliesslich seine Klangreise mit dem Namen ‹Sleep›, die auf eine ganz spezielle Weise zu geniessen ist: einschlummernd.»
Hinter den schweren Eingangstüren wartet ein in pechschwarze Farbe getunkter Raum in der Grösse einer Dreifachturnhalle. Er macht einen auf «cozy» Lounge-Atmosphäre. Stehlampen, Sofas und Schaukelstühle sitzen auf flauschigen Kuschelteppichen und bräuchten nur noch einen Aperol Spritz um die Hotelbar-Stimmung, die sie erzeugen wollen, zu komplementieren.
Doch das Ganze wirkt etwas sehr erzwungen künstlerisch, sodass sich niemand wagt, die Einladung zur Sitzgelegenheit anzunehmen und alle Gäste direkt auf ihre Liegeplätze hinsteuern: Die sogenannten Traumbetten, die in Tat und Wahrheit hübsch hergerichtete Billigbetten aus einem bekannten schwedischen Möbelhaus sind.
Niemand hier war bisher an einem Schlafkonzert. Es ist das erste seiner Art, das in der Schweiz stattfindet. Wir verhalten uns jetzt schon alle unverhältnismässig leise und auch ein wenig unbeholfen. Filzkisten, die am Ende aller Betten stehen, brechen unsere Ratlosigkeit. Plüschfinken, Schlafbrille, Oropax, Reisezahnbürste und ein feudaler Bademantel befinden sich darin und schaffen es innert Minuten das Publikum in die Gäste eines Spa-Hotels zu verwandeln.
Die Lautstärke im Raum beginnt sich indes zu heben. Die einen Pärchen beginnen zu kuscheln, andere versorgen sich mit Getränken und Snacks oder schliessen Bekanntschaf mit ihren Bettnachbarn, indem sie Dinge sagen wie: «Schon noch speziell hier. Bin ja gespannt, was da auf uns zu kommt».
Ohne ein Zeichen von Hemmung zu zeigen, zieht sich mein Bettnachbar bis auf die Unterhose aus und wickelt seine haarige Wampe mit dem weissen Frotté-Umhang ein. Seine Begleitung tut es ihm gleich, sodass auch ich mich überwinde, mein schwarzes Ausgeh-Outfit gegen Tomätchen-Shorts und Kakteen-Shirt einzutauschen.
Es ist nun 23.30 Uhr. Ich freue mich über die geschenkte Zahnbürste und begebe mich anschliessend in die Horizontale. Ein letzter Rank, Kissen verschieben, Brille ab. Dann geht's los.
Richter hockt ans Piano, wünscht allen eine gute Nacht und spielt dann 20 Minuten lang die selben vier Akkorde, während er den Computer brummende Basstöne einstreuen lässt. Ein hypnotisches Wiegenlied, das die Augenlider schon nach 15 Minuten in kleine Kieselsteine verwandelt.
«Fuck, ich darf jetzt noch nicht einschlafen», höre ich meine Stimme mein sich abmeldendes Bewusstsein mahnen. Als wäre es das oberste Deck eines fliegenden Schiffes lehne ich mich über die erhöhte Bettkante am Fussende meines Schlafplatzes. Etwas künstlich versuche ich wach zu bleiben.
Nach einer Stunde beginnt eine nymphenartige Stimme gegen unmenschlich hohe Violinen- und Computer-Töne zu tanzen. Die Einschlafphase ist vorbei. Richter dreht die Lautstärke hoch und verhindert, dass sein Publikum in den Tiefschlaf sinkt.
Es ist heiss. Die Luft ist stickig und riecht nach einem Gemisch aus Mensch, Schweiss und dem unpersönlichen Duft von neuen, noch nie gewaschenen Bettanzügen. Mich stört das nicht. Ich fliege in meinem Bett durch eine nächtliche Traumwelt, wie ich mir sie sonst nur am Tag ausmalen kann. Im 20-Minuten-Takt fällt die Musik in sich selbst zusammen, um sich sogleich wieder aufzubauen. In stoischer Manier akzeptiert sie ihren eigenen Zerfall und kann sich doch immer wieder aus ihren kümmerlichen Trümmern erneut erheben.
Eine Schläfrigkeit wie nach dem dritten Glas Rotwein überkommt mich und setzt meine Schläfen unter eine wohlige Spannung, als würden sie massiert werden. Mit dieser Standhaftigkeit halte ich nicht mehr mit. Es muss kurz vor vier Uhr morgens gewesen sein, als ich einschlummerte.
Kurz nach sieben drückt Max Richter noch einmal gehörig in die Taste. Die Bässe werden immer stärker. Fast so, als wollten sie einem etwas Wichtiges mitteilen: «Hey, erinnerst du dich an uns? Wir haben dich vor acht Stunden in den Halbschlaf gewogen, dich dort verharren lassen, zwischenzeitlich genervt aber jetzt machen wir alles wieder gut. Okay? Komm wach auf!»
Neugierig erhebe ich mich aus meinem traumlosen Schlaf, der sich keine Sekunde so angefühlt hat, wie sich Schlaf normalerweise anfühlt. Komisch. Trotzdem tritt die typische millisekundenlange Aufwachirritation ein, bei der man weder weiss, wo man ist, noch was man hier macht. Ein fremdes Bett in einem Raum mit fremden Leuten und dazu extrem lauter Nymphen-Gesang mit SciFi-Begleitung machen diesen Moment noch etwas verwirrender. Und vor allem länger.
Um halb neun hieven sich 120 Körper aus ihren verschwitzten Betten. Sie schnüren ihre Bademäntel eng zu, um ohne fremde Blicke ihre Kleider zu wechseln. Anschliessend wird gepackt, sich mit Kaffee und Gipfel eingedeckt um so schnell wie möglich vor der alten Luft, die die letzte Nacht zurück gelassen hat, zu fliehen.
Ich für meinen Teil fühle mich leicht aufgeputscht, ein bisschen alleine und immer noch sehr verwirrt. Ein Gefühl, das man nur kennt, wenn man sich ab und zu alleine betrinkt. Ich packe meine Sachen zusammen, stopfe den neuen Bademantel, die Schlafbrille und das Zahnputz-Set in meinen Rucksack. Den Rest lasse ich liegen.
Zuhause angekommen, setze ich mich aufs Sofa und nicke für zwei Stunden ein. Ich erwache mit dem schlimmsten Kater, den ich je hatte.
Jonathan, 35
«Ich habe tiefer geschlafen, als ich dachte. Ich fand es eigentlich recht angenehm, dem Zyklus der Musik zu folgen und mich immer wieder aus dem Schlaf reissen zu lassen. Jede Nacht könnte ich das auf jeden Fall nicht tun.»
Anne, 22
«Ich habe am Anfang meditiert und bin dann recht schnell eingeschlafen. Erwacht bin ich zwischendurch schon. Aber nie so richtig. Meine Augen habe ich erst wieder bewusst geöffnet, als ich den Applaus des Publikums hörte.»
«Ich habe einen sehr traumreichen Schlaf. Heute habe ich davon geträumt, dieses Konzert zu verpassen. Das macht Sinn, denn als ich im Bett lag, dachte ich mir noch, es wäre jetzt doch schade, einfach acht Stunden durch zu schlafen. Heute Morgen muss ich sagen, es wäre schön gewesen acht Stunden zu schlafen. Ich konnte nämlich nie mehr als eine Stunde schlummern. Die Stimme der Sängerin hat mich immer wieder wach gerüttelt. Das hätte meines Erachtens nicht sein müssen.»
Maurice, 29
«Ich habe geträumt, ich wäre mit einem Baum spazieren gegangen. Und mit diesem Traum bin ich eigentlich sehr zufrieden. Denn die Musik und das ganze Feeling hatten einen sehr mystischen Eindruck auf mich. Ich glaube, ich habe zeitweise sogar völlig vergessen, dass es noch andere Menschen als mich und meine beste Freundin hier gibt.»
Marina, 28
«Die Erfahrung war echt einzigartig. Ich fand's schön, immer wieder aufzuwachen, zu lauschen und die Musik auf mich einwirken zu lassen. Am besten gefiel mir das Aufstehen in der Endphase. Die beste Umsetzung einer Snooze-Funktion, die ich je gehört habe. Und ich habe schon viele gehört, denn punkto Aufstehen bin ich nicht die tugendhafteste. »
«Schlafen hat für mich etwas Praktisches. Normalerweise lege ich mich ins Bett, schlafe ein und wache nach sechs bis acht Stunden wieder auf. Ich höre keine Musik dazu und habe auch sonst keine Rituale. Doch es funktioniert immer super. Heute habe ich keine Sekunde richtig geschlafen. Was ich davon halten soll, weiss ich noch nicht.»