Vom Bug der «Indonesia» blickte ich übers Meer: Nichts. Unten blau, oben blau. Hinter mir Europa und 4'000 Container, vor mir irgendwo Amerika. Mein Blick schweifte zurück zu Stephanies Reisebericht und zum Foto, das zuoberst auf meinen Notizen lag.
Als gerade mal 19-jährige war Stephanie 1891 alleine in die USA ausgewandert. Und kurz vor ihrer Abreise waren die Cordeliers erstmals zum Fotografen gegangen. Das Resultat war eine Inszenierung, die Anzüge der Jungs stammten genauso vom Fotografen, wie Stephanies Blazer mit der leichten Korsage. Kleine Kettchen deuteten Taschenuhren an, die sich die Familie nie und nimmer leisten konnte. Sie konnten sich ja nicht mal die Bahnfahrt von Oberwil nach Basel leisten, das verrieten die staubigen Schuhe.
Man sieht, wie der Fotograf die Familie arrangiert hat. «Legen Sie Ihrer Frau doch die Hand auf die Schulter», muss er zu Jules gesagt haben – und der tat es in einer Art, die keine Verbindung herstellt. Die Hand lastet auf seiner Frau. Ein Detail, das sinnbildlich ist für eine Ehe, die unfreiwillig geschlossen wurde und völlig zerrüttet war. Jules flüchtete sich in den Alkohol, Martina in die Religion und Stephanie in Träumereien vom Auswandern. Die wurden nun endlich Realität. Wenige Tage nach der Aufnahme fuhr sie mit dem Zug nach Antwerpen und mit der «Westernland» nach New York.
Stephanies Geschichte hatte mich schon immer fasziniert. Seit ich als Kind erstmals erfahren hatte, dass meine Urgrossmutter 1891 in die USA ausgewandert war. In der Schweiz hatte ich ihre Notizen studiert, war durch Bibliotheken und Archive gestreift, aber irgendwann war das einfach nicht mehr genug. Also hatte ich mir die Reise auf dem Containerschiff organisiert. Zehn herrlich langweilige Tage verbrachte ich wie aus der Welt gefallen auf dem Atlantik. Dann erreichte die «Indonesia» die amerikanische Küste. Ich brachte mein Fahrrad an Land und pedalte westwärts.
Stephanies Ankunft war deutlich mühseliger. Von der «Westernland» kam sie ins komplett überfüllte Aufnahmezentrum Castle Garden, wo sie inmitten zwielichtiger Gestalten zum scheinbar endlosen Warten verdammt war. Es folgte eine nächtliche Hatz durch New York, bei der sie ihre Gruppe verlor und schliesslich allein, orientierungslos und ohne Sprachkenntnisse auf der Strasse stand.
Einige Tage (bzw. 125 Jahre) später schob mich kräftiger Rückenwind in den Westen Ohios. Defiance. Hierhin hatte es auch Stephanie nach ihrem New Yorker Abenteuer geschafft. Der Ort hatte damals zwar bloss 7000 Einwohner, dafür aber ein Opernhaus und eine Strassenbahn. Und es war die grösste Stadt auf einer Fläche so gross wie der Kanton Tessin. Stephanie wurde Dienst- und Kindermädchen bei einer Ärztefamilie und verlor ihr Herz besonders an Rosa, Anna, Leo und Finy, die null- bis zwölfjährigen Kinder. Daneben kümmerte sie sich ums Essen, die Wäsche, den Haushalt und den politischen Papagei. Dieser hatte 1892 sogar bei den Präsidentschaftswahlen ein paar Worte mitzureden.
Stephanie entdeckte in Ohio ein komplett neues Leben. Mit Bananen, Zuckersirup und einem Warmwasserhahn. Mit hornlosen Kühen, weitläufigen Farmen, riesigen Apfelbäumen und elektrischem Licht. Mit gewieften Dienstbotinnen, politischen Aktivistinnen, einem eingebildeten Wettermacher, einem exzentrischen Pfarrer und Ehepaaren, die sich tatsächlich liebten. Vor allem aber entwickelte sie sich hier zu einer couragierten Frau, die ihre eigenen Entscheide traf. Am Ende heiratete die brandschwarz katholisch aufgewachsene Stephanie einen Protestanten, riskierte den Konflikt mit ihrem alkoholsüchtigen Vater und verhielt sich auch im Krieg mutig und menschlich.
Je länger ich nachforschte, desto mehr fand ich. Ausdauer und Zufälle führten mich zu Testamenten, Landkarten, Adressbüchern, Stadtgeschichten, Anekdoten, Gedichten, Grabsteinen, Notizbüchern, Zeitungsartikeln und immer neuen Geschichten. Das spektakulärste aber waren die Fotografien: wie Fernrohre durch die Jahrhunderte. Ich stiess auf einen Nachfahren des Arztes, der sandte mir einige Bilder und plötzlich blickte ich in die Augen der Kinder, auf die Stephanie vor 125 Jahren aufgepasst hatte. Nie zuvor hatte ich solche Gänsehaut. Auf meiner Recherchetour pedalte ich schliesslich bis nach San Francisco. Unterwegs wurden mir zwei Dinge immer bewusster: Stephanie hatte ziemlich gerockt. Und ich musste ihre Geschichte aufschreiben.
«Nach Ohio» ist im Zytglogge-Verlag erschienen und liegt für 32 Franken in fast jeder Buchhandlung. Eine Leseprobe gibt es hier: