Juventus war gestern Abend schwächer als Tottenham. Viel schwächer. Erschreckend, mit welcher Hilflosigkeit sich Juventus den 84'000 Zuschauern im Wembley präsentierte. Nie war der Spitzname «alte Dame» treffender, als über weite Strecken in diesem Achtelfinal-Rückspiel. Tottenham war flinker, spielfreudiger, kreativer, kurzum einfach in allen Belangen besser.
0:1 nach einer Stunde. Die Darbietung von Juventus ist ein Hilfeschrei. Einer nach einem Rollator, um sich festzuhalten und nicht komplett im Boden zu versinken. Gepiesackt von den Nadelstichen der jungen wilden Engländer, die auf das 2:0 drücken. Juventus hat bis dahin noch keinen einzigen Torschuss abgegeben.
In 169 Sekunden schiesst Juventus dann plötzlich zwei Tore. Das Spiel ist auf den Kopf gestellt und das bemitleidenswerte Tottenham muss spüren, wie schmerzhaft Effizienz eigentlich sein kann. Juventus setzt sich schliesslich durch und zieht in die Viertelfinals ein. Wie das geschehen konnte? Es steckt etwas mehr dahinter als einfach bloss Glück.
Entschuldigt den Ausdruck, aber was Juventus gestern über weite Strecken zusammenspielte, war gequirlte Scheisse. Das ist bei Juventus allerdings häufig der Fall. Noch am Wochenende holten die Turiner einen eminent wichtigen 1:0-Auswärtssieg bei Lazio Rom. Auch dort spielten sie bis zum Siegtreffer in der 93. Minute ganz schwachen Fussball. Juventus hat das Gewinner-Gen entwickelt, welches die Dusel-Bayern anfangs der 2000er so berühmt machte. Irgendwie geht's am Schluss immer auf, obwohl man manchmal selbst nicht so genau weiss, weshalb.
Dass Juventus die international viel erfahrenere Truppe hat, war wohl ihr grösster Vorteil und zeigte sich in der Schlussphase deutlich. Denn Tottenham dürfte dieses Spiel eigentlich nie mehr aus der Hand geben – vor allem nicht innert drei Minuten. Das ist teures Lehrgeld, welches die Londoner da bezahlt haben.
Wie sich Tottenham beim Gegentreffer zum 1:2 verhielt, ist dilettantisch. So viel Lob die Spurs für ihr starkes Spiel auch verdienen, wer sich so leicht ausspielen lässt, ist selbst schuld, wenn es nicht für die Viertelfinals reicht.
Ab der 71. Minute und dem 2:2 im Hinspiel hatte Tottenham in diesem Duell immer die Nase vorne. Im Rückspiel brauchte Juventus nach dem 0:1 gar zwei Tore für die Viertelfinal-Qualifikation. Doch die Turiner liessen sich nicht stressen, standen auch in der zweiten Halbzeit trotz des Rückstandes defensiv kompakt und warteten auf ihre Chance, die dann auch kam.
Chiellini’s brutal verdict:’we knew Spurs were weak in defence and fragile mentally- experience told’ @itvfootball pic.twitter.com/OtDcosv5CY
— gabriel clarke (@gabrielclarke05) 7. März 2018
Stephan Lichtsteiner hat gestern sein zweites Champions-League-Spiel in den letzten zwei Jahren gespielt. Der Schweizer Nati-Captain war unter Allegri international nicht mehr gesetzt und spielte über ein Jahr nicht mehr in der Königsklasse. Zu Unrecht, wie Lichtsteiner nach seiner Einwechslung sofort bewies. Der Aussenverteidiger brachte sofort neuen Schwung über die rechte Seite und leitete das 1:1 mit einer butterweichen Flanke ein.
Dass Lichtsteiner gestern überhaupt zum Einsatz kam, liegt allerdings auch an den mangelnden offensiven Alternativen auf der Juvebank. Mit Mario Mandzukic, Juan Cuadrado und Federico Bernardeschi fehlten gleich drei Offensivkräfte verletzt.
So werden die beiden Juve-Stürmer Gonzalo Higuain und Paulo Dybala gerne mal hämisch bezeichnet. Doch die Argentinier machten – obwohl beide eben erst von einer Verletzung zurückgekehrt sind und im Rückspiel kaum zu sehen waren – erneut den Unterschied aus. Paulo Dybala schoss den zweiten Siegtreffer innert fünf Tagen und Higuains Quote spricht für sich. Während der hochgelobte Harry Kane in den zwei Achtelfinalspielen auf ein Tor kam, liess sich Gonzalo Higuain drei Tore und einen Assist gutschreiben.
Im Hinspiel ein 0:2 vergeigt, im Rückspiel während 60 Minuten klassische Arbeitsverweigerung. Es gibt Gründe, Juve-Trainer Massimiliano Allegri in Frage zu stellen. Aber am Schluss gibt ihm das Resultat eben doch Recht. Tottenham war über die zwei Spiele gesehen die bessere Mannschaft mit mehr Spielwitz, mehr Leichtigkeit, mehr Lust am Fussball. Dennoch hat Allegri irgendwie einen Weg gefunden, Juventus in die Viertelfinals zu bringen – sei es mir der unkonventionellen Einwechslung von zwei Aussenverteidigern bei einem 0:1 nach 60 Minuten, die dann tatsächlich die Wende bringen.
Es geht beim Fussball nunmal nicht darum, die meisten, sondern die besten Schüsse abzugeben. Das hat Juventus gemacht und mit den ersten beiden Schüsse aufs Tor auch gleich getroffen.
02:49 - Juventus have scored with their first two shots on target in this match, with just two minutes & 49 seconds separating the two goals. Quickfire. #TOTJUV
— OptaJoe (@OptaJoe) 7. März 2018
Tottenham-Trainer Mauricio Pochettino sagte nach dem Spiel, dass es seine Mannschaft mehr verdient gehabt hätte, weiterzukommen, ergänzt aber: «Im Fussball geht es nicht darum, es sich mehr zu verdienen, sondern mehr Tore zu schiessen.»
Mangelnde Qualität kann mit Leidenschaft weitgehend kompensiert werden. Paradebeispiel dafür war gestern Giorgio Chiellini, der abgesehen von der guten Spieleröffnung beim 2:1 kaum einen Pass an den Mann brachte und sich auch defensiv das eine oder andere Mal übertölpeln liess. Doch der Italiener grätschte, schwitzte und kämpfte wie kein anderer auf dem Feld, was sich auch in der Statistik niederschlägt.
Tottenham v Juventus:
— Duncan Alexander (@oilysailor) 7. März 2018
Most tackles: Chiellini
Most clearances: Chiellini
Most blocks: Chiellini
Most Chiellini: Chiellini
Tottenham war gestern mehr als eine Klasse besser als Juventus und hätte den Sack früher zumachen müssen. Bleibt diese Mannschaft so zusammen, werden sie in Zukunft noch besser werden und ihre Titel holen. Die Londoner hätten das Weiterkommen verdient, haben sich in entscheidenden Szenen aber auch schlicht zu dämlich angestellt.
Juventus hat in dieser Form keine Chance, in der Champions League 2017/18 etwas zu erreichen. Dazu ist vor allem das Mittelfeld viel zu schwach. Nun ist Coach Allegri gefragt, dennoch einen Weg zu finden, um im Viertelfinal von Beginn weg mehr Zugang zum Spiel zu finden. Nochmals wird das für Juve auf diese Weise nicht gut gehen.