Normalerweise sind Gemeinden froh, wenn sie ihre Asylbewerber loswerden. In Deitingen ist das anders. Da kämpft ein Dorf für den Verbleib einer äthiopischen Familie. Er, 49, kam vor vier Jahren in die Schweiz, ist Mitglied im örtlichen Fussballverein, Mittelfeld, hätte auf der Einwohnergemeinde eine temporäre Arbeitsstelle erhalten sollen, Deutschniveau B1. Sie, 37, kam vor fünf Jahren, ist Mitglied im Chor der Nationen, engagiert sich in der katholischen Kirche, Deutschniveau A2. Gemeinsam kümmern sie sich um ihre hier geborene Tochter.
Die Stelle als Gemeindearbeiter darf der Vater nun nicht antreten. Die Familie erhält kein Asyl. Damit ergeht es ihnen wie gut 12'000 weiteren Asylbewerbern, deren Gesuche 2014 abgelehnt wurden. Eigentlich kaum der Rede wert also. Ein Schicksal unter vielen. Nur: In Deitingen will man nicht, dass die Familie geht. Eine Welle der Solidarität wurde ausgelöst und rollt nun in Richtung Bundeshaus. Vom Gemeindepräsident bis zum Pfarrer, vom Nachbarn bis zum Kirchgänger, von der Spielgruppe bis zum Fussballverein – sie alle adressierten Briefe an die Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga. Sie alle bitten um eine humanitäre Aufenthaltsbewilligung für die gut integrierte Familie.
«Ich möchte nicht, dass sie ausgeschafft werden und wir nichts dagegen unternommen hätten», sagt Albert Weibel, der ehemalige Integrationsbeauftragte des Kanton Solothurn. Er ist Präsident des Chor der Nationen, kennt die Familie und koordiniert die Briefaktion. Er könne nicht verantworten, dass sie zurückmüssten, wenn doch der Tochter in Äthiopien eine Beschneidung drohe. Die Mutter musste dies am eigenen Leib erfahren. Sie leidet noch heute unter den Folgen. Bei einer Rückkehr drohte der Familie allerdings eine noch grössere Gefahr.
Im Bahnhofshaus in Deitingen leben in zwei Wohnungen insgesamt elf Asylbewerber. Rechts jene aus Afrika, links jene aus Syrien und anderen arabischen Ländern. Im Treppenhaus hängen ausgeblichene Bilder von Paris – Sacré Coeur und Moulin Rouge.
Seit zweieinhalb Jahren wohnen Emebet Gebeyehu und Girum Ketsela in Deitingen. Emebet steht in der Küche und kocht Wasser. Girum wartet im Wohnzimmer. Grüne Stoffsofas, ein Salontisch, ein Fernseher, der jedoch nicht funktioniert. Ein Paar sind die beiden seit zehn Jahren. Verliebt haben sie sich an der Universität von Addis Abeba. 2009, kurz vor ihrer Flucht, heirateten sie.
Plötzlich beginnt Meklit, ihre zweijährige Tochter, zu weinen. Emebet eilt ins Schlafzimmer, kommt zurück mit der fiebrigen Tochter in den Armen. Girum serviert den Tee. Gestern mussten sie ins Spital, Meklit hat Grippe. Schnell beruhigt sie sich und schläft wieder ein, eingewickelt in eine selbstgestrickte Decke.
Was, wenn sie nun tatsächlich zurückmüssen? Girum schaut kurz zur Decke, wo eine lose Glühbirne hängt. «Wenn sie mich noch einmal verhaften, dann bringen sie mich um», sagt er. Mit «sie» meint Girum die äthiopische Regierung. In Addis Abbeba arbeitete er auf der amerikanischen Botschaft. Er engagierte sich aber auch politisch in einer oppositionellen Untergrundbewegung.
Girums Antrieb: Während der Studentenunruhen im Jahr 2000 wurde sein 21-jähriger Neffe verhaftet und in der Zelle getötet. Er habe seinen Sohn verloren. Girum war dessen Ersatzvater. Nun wendete er sich öffentlich gegen die Regierung, an Menschenrechtsorganisationen spielte er Informationen zu. Girum legt zwei vergilbte Zeitungen auf den Tisch. Hier sei alles dokumentiert. Neun Jahre später, als er von seiner Arbeit kam, wurde er wegen seiner Aktivitäten verhaftet, gefoltert. Nach vier Tagen kam er frei. Er aber wollte das Land verlassen. Endgültig.
Wann immer ein Zug vorbeifährt, zittert der Boden. Emebet und Girum wärmen sich am Tee die Hände, draussen fällt Schnee. Emebet und Girum sind froh, hier zu sein. Dass sie überhaupt wieder zusammenleben könnten, sei unglaublich. Ein Wunder. Zuerst flüchtete Emebet. Einem Mittelsmann bezahlten sie umgerechnet 5000 Franken. Nach Europa soll es gehen, mehr wusste sie nicht. Ein Jahr später flüchtete Girum. Auf dieselbe Weise. Auch er wusste nicht, wo er ankommen würde; er wusste nicht einmal, in welchem Land sich seine Frau befand. Er glaubte, sie vielleicht nie wieder zu sehen. Doch weit entfernt waren sie nicht: Sie wurde im aargauischen Muhen untergebracht, er im solothurnischen Oberbuchsiten, 26 Kilometer Entfernung. Von Familienmitgliedern erfuhren sie, dass beide in der Schweiz seien. Es gelang, Kontakt herzustellen, täglich telefonierten sie. Ein äthiopischer Bekannter fuhr Emebet nach Oberbuchsiten. Endlich umarmten sie sich.
Beatrice Reiterer leitet in Solothurn Muki-Deutsch. Als sie in Deitingen mit ihrem Hund spazieren ging, sah sie Girum mit seinem Baby. Sie sprach ihn an. Die Familie sei ihr bereits in der Kirche aufgefallen. Es entstand eine Freundschaft. Zweimal wöchentlich besucht Beatrice Reiterer nun die Asylwohnung, zeigt wie man Abfall entsorgt, Papier bündelt, hilft bei amtlichen Gesprächen, tritt als Vermittlerin auf. Sie ist Gotte der kleinen Meklit. Beatrice Reiterer startete denn auch die Briefaktion.
Und wenn die Briefe nicht helfen? Wenn die Familie ausgewiesen wird? Daran mag sie nicht denken. Allerdings meint sie, dass es nach Äthiopien keine Zwangsausweisungen gäbe. Dies bestätigt das Staatssekretariat für Migration teilweise: Die Zusammenarbeit mit den äthiopischen Behörden sei in diesem Bereich schwierig. Deshalb könnten nur wenige Rückführungen zwangsweise vollzogen werden, sagt Léa Wertheimer, die Mediensprecherin. Für Emebet und Girum ist eines klar: Zurück gehen sie auf keinen Fall. Bleiben sie jedoch ohne Aufenthaltsbewilligung, erhalten sie auch keine Arbeitsbewilligung. Sie müssten von der Nothilfe leben. Pro Person sind das sieben Franken am Tag. Girum möchte aber unbedingt für seine Familie selber aufkommen. Er würde jede Arbeit annehmen.
In einer Ecke der Wohnung hängen bunte Luftballone mit aufgedruckten Smileys. Die meiste Luft ist bereits entwichen, die lachenden Gesichter verzerrt. Inzwischen ist Meklit aufgewacht. Sie greift zu einem Fläschchen Orangensaft und nimmt einen grossen Schluck. Die Grippe wird sie bald überstanden haben.