Wann würden Sie sagen, dass Sie einen anderen Menschen wirklich kennen? Wenn Sie mit ihm zusammen als Kind Sandburgen gebaut sowie Räuber und Poli gespielt haben? Wenn Sie mit ihm bis zum Sonnenaufgang über Gott, die Welt und die Liebe diskutiert haben? Wenn Sie von ihm wissen, dass er am liebsten Ghackets mit Hörnli isst? Oder dass er jede Nacht mindestens einmal aufwacht, weil er glaubt, die Milch nicht in den Kühlschrank gestellt zu haben?
Wenn das der Massstab ist, kenne ich Ivan überhaupt nicht. Ich weiss nur, dass er in die bulgarische Kleinstadt Svilengrad unterwegs ist (weil er mich dorthin mitnimmt), dass er verheiratet ist (wegen seines Eherings), dass er selbst 1969 und seine Tochter 1994 geboren wurden (weil er diese Zahlen auf Nachfrage in mein Handy tippt), und dass er irgendetwas mit Bussen arbeitet (weil er ständig auf diese zeigt, nachdem ich ihn nach «Job?», «Work?», «Arbeit», «Travail?», «Trabajo?» gefragt habe). Weiter offenbart das Chaos in seinem Mund, dass seine Eltern zu wenig Geld hatten für eine Zahnspange. Und seine Statur lässt darauf schliessen, dass er einer nahrhaften Mahlzeit nicht abgeneigt ist.
Mehr Informationen konnte ich während der zweistündigen Fahrt nicht sammeln. Trotzdem behaupte ich, dass ich Ivan besser kenne als viele Menschen, mit denen ich fliessend kommunizieren kann. Denn ich weiss, dass er eine sehr seltene Eigenschaft hat: Ivan kann einem fremden Menschen, den er gerade erst kennengelernt hat, vollkommen vertrauen.
Auf halber Strecke fährt Ivan plötzlich rechts ran, steigt aus und läuft zu einem Gemüsestand auf der anderen Strassenseite. Mich lässt er alleine in seinem Auto zurück. Das ist an sich nichts Besonderes, es kommt immer wieder vor, dass einer meiner Fahrer eine Besorgung machen muss und ich solange im Wagen warte. Doch bei Ivan ist etwas anders als sonst: Er lässt seinen Autoschlüssel stecken.
Mir fällt das sofort auf. Die Schlüsselanhänger (ein Bild von Maria mit Jesuskind sowie ein Kreuz) baumeln noch. Ich bräuchte jetzt nur auf den Fahrersitz zu wechseln, den Schlüssel zu drehen, und weg wäre Ivans schöner Skoda. Ich denke natürlich nicht ernsthaft daran, Ivans Auto zu klauen. Wenn es aber mein Wagen wäre, und ich einen Fremden darin zurücklassen würde, würde ich diese Möglichkeit zumindest im Hinterkopf haben. Nicht so Ivan: Nach fünf Minuten kommt er mit sich selbst beschäftigt zurück, durchsucht sein Auto nach ein paar Münzen, um die Tomaten zu bezahlen, und lässt mich dann wieder mit dem Schlüssel allein.
Ivan erbringt diesen Vertrauensbeweis wahrscheinlich unbewusst, für ihn ist es nichts Besonderes – und genau deshalb bin ich so beeindruckt. Denn ich selbst bin nicht annähernd so weit. Selbst wenn ich mich in einem Auto vollkommen wohl fühle, nehme ich meinen kleinen Rucksack, in welchem ich meine wichtigsten Sachen aufbewahre, immer mit. Selbst dann, wenn ich bei einer Raststätte nur kurz auf die Toilette gehe. Zuverlässig ertönt die innere Stimme, die sagt: «Man weiss ja nie …»
Bei uns, im gegensatz, erwartet man immer dass schlimmste.