Volvo erfindet den Sicherheitsgurt neu
Nachdem der schwedische Hersteller 1959 den Dreipunkt-Sicherheitsgurt erfunden hatte – und ihn grosszügig allen Konkurrenten zur Verfügung gestellt hatte, ohne auch nur einen Cent an Lizenzgebühren dafür zu verlangen –, legt er nun mit einer weiteren Revolution nach: dem multiadaptiven Sicherheitsgurt. Dank Software-Fortschritten beim Elektroauto kann diese Technologie, durch die der Gurt sich sofort an die Körperform jedes Fahrzeuginsassen und an die Gegebenheiten eines Unfalls anpassen kann, nun in Fahrzeuge eingebaut werden.
Volvo Cars wurde 1927 in Göteborg gegründet und hat Sicherheit schon immer zu seinem Markenzeichen gemacht. Der Ingenieur Nils Bohlin hatte bereits 1944 den ersten Sicherheitskäfig entwickelt. Fünfzehn Jahre später revolutionierte er die Automobilbranche mit seinem Dreipunktgurt, der seitdem schätzungsweise mehr als eine Million Menschenleben gerettet hat.
Und was daran am schönsten ist? Volvo hat sich dafür entschieden, sich diese Erfindung nicht patentieren zu lassen, so dass alle Hersteller sie kostenlos übernehmen können. Open Source im wahrsten Sinne des Wortes. In einer Zeit, in der um jede Schraube ein Kampf um geistiges Eigentum geführt wird und unzählige Patentanmeldungen eingereicht werden, erscheint dieser altruistische Ansatz schon fast ... liebenswert.
Seitdem wurde die Liste der Sicherheitsinnovationen von Volvo immer länger: die ersten rückwärts gerichteten Kindersitze (1972), das Seitenaufprallschutzsystem (1991), der erste Seitenairbag (1994), das City Safety System (2008) ... und die Liste setzt sich fort. Und nicht zu vergessen das kühne Versprechen aus dem Jahr 2008, dass in Zukunft keine Menschen mehr in einem Volvo sterben sollten. Von diesem ultimativen, wenn auch vielleicht utopischen Ziel wird auch heute noch jede Entwicklung der Marke geleitet.
Göteborg, das Labor der Extreme
Im Zentrum dieser Sicherheitsbesessenheit steht das Volvo Cars Safety Centre in Göteborg. Dieser 2002 eröffnete Crashtest-Tempel gehört zu den fortschrittlichsten Labors der Welt.
Mit zwei Teststrecken, die mit einem 850 Tonnen schweren beweglichen Hindernis ausgestattet sind, Bereichen, in denen Strassenumgebungen nachgebildet sind, und Überrollvorrichtungen kann das Zentrum «fast jeden Verkehrsunfall nachstellen», wie Volvo stolz erklärt. Über 7000 Crashtests wurden dort durchgeführt, die weit über die gesetzlichen Anforderungen hinausgingen, um die fünf Sterne der Ratingagenturen zu erreichen.
Neben diesen Experimenten wertet Volvo auch Zeugenaussagen, Daten und sogar Autowracks aus, die bei echten Zusammenstössen auf der ganzen Welt gesammelt wurden. In diesem Labor aus einer anderen Welt resultierte nach jahrzehntelanger Forschung und der Auswertung einer einzigartigen Datenbank mit über 80 000 Insassen, die in reale Unfälle verwickelt waren, der multiadaptive Gurt.
Der Gurt, der schneller denkt als du
Konkret bedeutet das, dass dieser revolutionäre neue Gurt namens Active Safety Belt die durch eine Reihe von Innen- und Aussensensoren gelieferten Daten auswertet, um seine Reaktion in Echtzeit anzupassen. Schluss mit den drei herkömmlichen Kraftbegrenzungsprofilen und Vorspannern, die in aktuellen Autos verbaut sind. Vorhang auf für elf verschiedene Konfigurationen, jede mit einem deutlich erweiterten Spektrum an Einstellungen.
Das Prinzip? Bei einem Aufprall analysiert das System sofort die Körperform des Fahrzeuginsassen (Grösse, Gewicht, Position) sowie die Gegebenheiten des Unfalls (Richtung, Geschwindigkeit, Intensität) und wählt das optimale Profil aus.
Umgekehrt wird bei einem kleineren Insassen bei einem leichten Aufprall der Druck verringert, um Rippenfrakturen zu vermeiden.
Dafür muss das System auf eine beträchtliche Rechenleistung zurückgreifen. Mit dem neuen Nvidia Drive-System, das bis zu 1000 Billionen Operationen pro Sekunde verarbeiten kann, steht diese nun auch an Bord zur Verfügung. Der elektrische SUV Volvo EX90 war das erste Fahrzeug der Marke, das als Software defined bezeichnet wurde.
Seine Funktionsweise beruht auf den IT-Schnittstellen Nvidia Drive Xavier und Snapdragon Cockpit, und diese Architektur soll auf den neuen Plattformen des Herstellers zum Einsatz kommen. So kann Volvo mit dem schnellen technischen Fortschritt bei Elektrofahrzeugen Schritt halten.
Das Beste an der Technologie: Das System wird mit der Zeit durch Over-the-Air-Updates (OTA) verbessert, die ständig neue Daten und Erkenntnisse des schwedischen Sicherheitszentrums einbeziehen.
Geely am Steuer, Sicherheit im Mittelpunkt
Seit der Übernahme durch den chinesischen Geely-Konzern im Jahr 2010 hat die Automobilsparte von Volvo ihre Sicherheitsidentität bewahrt und gleichzeitig von den massiven Investitionen ihres Eigentümers profitiert.
Der Beweis: 2024 erwies sich als Rekordjahr mit einem Umsatz von 34 Milliarden Schweizer Franken und einem weltweiten Absatz von 763 389 Fahrzeugen. Eine finanzielle Leistung, die es der Marke ermöglicht, weiterhin massiv in Forschung und Entwicklung zu investieren, wie der multiadaptive Gurt beweist.
EX60 als erster Nutzniesser
Der adaptive Sicherheitsgurt wird 2026 im EX60 debütieren, dem zukünftigen 100 % elektrischen Familien-SUV der Marke, der im Januar 2026 vorgestellt werden soll. Dieses Modell, das auch die SPA3-Plattform für Elektrofahrzeuge einführen wird, ist Teil der Energiewende-Strategie von Volvo, die darauf abzielt, ein rein elektrischer Hersteller zu werden.
Denn die Marke hat zwar lange gebraucht, um auf 100 % Elektroantrieb umzusteigen, und setzte zunächst auf Hybrid- und saubere Motoren, doch jetzt holt sie ihre Mitbewerber mit grossen Schritten ein. Der EX30, ein kleiner elektrischer SUV, der 2023 auf den Markt kam, ist ein beachtlicher kommerzieller Erfolg, während der EX90 die Marke Volvo im elektrischen Premiumsegment neu positioniert.
Über den Autor:
Jérôme Marchon ist ...
... seit seiner frühesten Kindheit ein leidenschaftlicher Auto-Fan. Seine berufliche Karriere begann er in der Finanzbranche, trug aber schon früh zum Aufbau eines Auto-Blogs bei – bis er schliesslich seinen eigenen Blog gründete. Sein weiterer Weg führte ihn in die Chefredaktion der «Revue Automobile». Seit 2018 ist er freiberuflich tätig und schreibt für verschiedene Auto- und allgemeine Print- und Digital-Medien in der Schweiz und im Ausland. Jérôme Marchon arbeitet auch als Übersetzer und Berater für redaktionelle Inhalte für Automobilveranstaltungen und Autohersteller.