Eigenwohl vor Gemeinwohl: Die Schweiz wird zum «Ego-Land»
Das letzte Abstimmungswochenende brachte einige denkwürdige Entscheide. Auf nationaler Ebene wurde der Eigenmietwert nach mehreren gescheiterten Anläufen abgeschafft. Das Hauptargument der Befürworter, es handle sich um eine ungerechte Steuer, hat gewirkt. Profitieren werden – ältere – Hausbesitzer, die ihre Hypothek weitgehend amortisiert haben.
Im Tessin wurden zwei Volksinitiativen angenommen, die auf eine beträchtliche Entlastung bei den im Südkanton rekordhohen Krankenkassenprämien abzielen. Und in der Stadt Zürich soll die Bevölkerung für das ÖV-Jahresabo künftig nur noch 365 statt 809 Franken bezahlen. Eine SP-Volksinitiative wurde mit Zweidrittel-Mehrheit angenommen.
Damit scheint sich ein Trend zu verfestigen, der sich bei der 13. AHV-Rente im März 2024 akzentuiert hatte: Das Stimmvolk schaut bei Abstimmungen auf den persönlichen Vorteil. Es mache den Staat zum «Selbstbedienungsladen», analysierte der «Blick» gewohnt polemisch. Und für die NZZ wird der Stimmbürger zum «Schnäppchenjäger».
Von AHVplus zur 13. Rente
Ganz unberechtigt ist dieses Lamento nicht. Während langer Zeit war die Schweizer Bevölkerung bekannt für ihre Zurückhaltung gegenüber Wohltaten per Volksentscheid. Linke Initiativen für einen Sozialausbau wurden ausnahmslos abgelehnt, und das meistens sehr deutlich. «Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für uns alle», lautete die Devise.
Als Paradebeispiel erwähnt der «Blick» das Zweidrittel-Nein zu sechs Wochen Ferien für alle, das international für Furore sorgte. Das ist erst 13 Jahre her. Und noch 2016 wurde die AHVplus-Initiative abgelehnt, die eine identische Stossrichtung hatte wie die 13. Rente. In weniger als acht Jahren wurde aus einer klaren Ablehnung eine praktisch gleich hohe Zustimmung.
Ausdruck des Zeitgeistes
Schon immer konnte man sich auf die Devise «Die Schweiz stimmt mit dem Portemonnaie ab» verlassen. Aber während man sich früher am Allgemeinwohl – oder was man dafür hielt – orientierte, will man heute möglichst viel für sich abzweigen. Die gut schweizerische Tugend namens Eigenverantwortung wird umgedeutet in «Verantwortung in eigener Sache».
«In Kampagnen wird oft direkt darüber gesprochen, welche Vor- oder Nachteile es für das eigene Portemonnaie gibt», stellte der GFS-Politologe Lukas Golder gegenüber dem SRF fest. Für ihn ist dies ein Ausdruck der Individualisierung und damit des Zeitgeistes. Das Argument, den Wirtschaftsstandort schützen zu müssen, ziehe heute weniger, so Golder.
Wir sind zum Ego-Land geworden, und das in relativ kurzer Zeit. Das liegt nicht nur am Trend zur Selbstverwirklichung, sondern auch an realen Vorkommnissen:
Pandemie
Die Corona-Pandemie war ein gravierender Einschnitt, wie ihn kaum ein lebender Mensch jemals erlebt hatte. Wir mussten uns für die Gemeinschaft erheblich einschränken, was bekanntlich nicht alle goutierten. Der Staat habe stark in die Freiheiten des Einzelnen eingegriffen, sagte Politologe Golder dem SRF: «Das hat eine Bruchlinie geschaffen.»
Seit dem Coronajahr 2020 habe sich die Meinungsbildung bei Abstimmungen verändert. «Sie wurde unvorhersehbarer, egoistischer», stellte der erfahrene Meinungsforscher fest. Die Massnahmen des Bundes haben offenbar auch bei manchen, die sie als notwendig betrachteten, einen Backlash erzeugt. Das äussert sich unter anderem in der Klimapolitik.
Milliardenhilfen
Während der Pandemie mobilisierte der Bund rund 30 Milliarden Franken zur Stützung der Wirtschaft. Die Kredite wurden unbürokratisch vergeben, was zu Betrügereien einlud. Auch als die UBS 2008 und die Credit Suisse 2023 durch eigenes Verschulden in massive Notlage gerieten, stellte der Bund Milliarden bereit, die er angeblich nicht hatte.
Am Ende verdiente er in beiden Fällen mit den Rettungsübungen sogar Geld, dennoch blieb in der breiten Bevölkerung der Eindruck haften, der Staat tue alles, um selbstherrlichen Abzocker-Managern aus der Bredouille zu helfen, während er bei den kleinen Leuten knausert. Es ist der ideale Nährboden für eine «Jetzt sind wir einmal dran»-Trotzreaktion.
Krisen
Die grosszügigen Staatshilfen hatten einen weiteren Kollateral-Effekt: Wir wissen seit der hartnäckigen Flaute in den 1990er-Jahren nicht mehr, was eine echte Wirtschaftskrise ist. Das mindert den Leidensdruck und fördert die Anspruchsmentalität, besonders vor dem Hintergrund steigender Wohnungsmieten und Krankenkassenprämien.
Der hohe Lebensstandard in unserem Land hat eben auch eine Kehrseite. Je weiter oben man sich befindet, umso grösser ist die Fallhöhe und die Angst vor dem Absturz. In den USA und anderen Ländern spielt dies «Rattenfängern» in die Hände. Bei uns führt es eher dazu, dass wir bei Volksabstimmungen vermehrt darauf achten, was für uns drinliegt.
Staat
Bei uns ist es fast zu einer Art Tradition geworden, dass die öffentliche Hand vom Bund bis zu den Gemeinden mehr einnimmt als budgetiert. Auch das fördert das Anspruchsdenken. Das Motto «Zürich kann sich das leisten» hat sich selbst im Stadtrat eingenistet, da kann der grüne Finanzvorsteher Daniel Leupi noch so eindringlich vor härteren Zeiten warnen.
Umgekehrt wirkt der Staat bei Problemen wie dem angespannten Wohnungsmarkt oder der Kostenexplosion im Gesundheitswesen überfordert. Das führe zu «Staatsverdrossenheit», so der «Blick». Allerdings ist es auch ein Wohlstandsphänomen. Die Stadt Zürich etwa hatte vor 60 Jahren gleich viele Einwohner wie heute und erheblich weniger Wohnungen.
Die Giesskanne lässt grüssen
Diese Punkte liefern eine Erklärung für den Wandel zur Ego-Gesellschaft. Weitere Entscheide in diese Richtung könnten folgen, etwa die von der Mitte-Partei geforderte Anhebung der Ehepaar-Renten. Im Parlament wird derzeit um eine Lösung gerungen. Wie bei der 13. AHV-Rente würden davon auch jene profitieren, die es nicht benötigen.
Die Tendenz zu Giesskannen-Entscheidungen, etwa auch beim 365-Franken-Abo in Zürich, ist fragwürdig, denn jemand muss dies bezahlen. Aufgrund der Abstimmungen vom Sonntag dürften in der Tessiner Staatskasse bis 500 Millionen Franken fehlen. Am Ende landet die Rechnung bei uns, in Form von höheren (Mehrwert-)Steuern und Lohnabzügen.
Polemisch formuliert bezahlen die Jungen dafür, dass die wachsende Schar Pensionierter mehr Geld bekommt. Schuld daran ist auch die Politik, die den Trend zur Ego-Gesellschaft verpennt hat. Bei der 13. AHV-Rente gab es einen «Rettungsversuch» mit einem Vorstoss zur Anhebung der Mindestrenten, doch er kam zu spät und war kaum bekannt.
Politologe Lukas Golder sieht auch die Regierung in der Pflicht. Sie müsse künftig wieder mehr Leidenschaft für Kompromisslösungen ausstrahlen: «Wenn das gelingt, kommen wieder weniger egoistische, sondern mehr gemeinwohlorientierte Resultate zustande.» In einer Zeit zunehmender Verteilkämpfe nicht nur beim Bund wirkt dies wie Wunschdenken.