Gewiss kennen Sie das: Irgendeine grosse Firma wie Google oder Apple behauptet, dass es ihr jetzt gelungen sei, die Welt so zu zeigen, wie sie wirklich ist. Zugleich aus der Vogelperspektive, aber auch mit 3D-Effekten. Was in der Zweidimensionalität eines Bildschirms ein grundsätzlicher Unsinn ist. Die Welt der digitalisierten, der «gerenderten» Landkarten entspricht keineswegs der Realität, im Gegenteil, sie verfremdet diese zu surrealen künstlichen Gebilden. Doch aus Künstlichkeit kann Kunst erwachsen, Verfremdung erlaubt die Reflexion von Vertrautem.
Die Zürcher Journalistin und Historikerin Regula Bochsler ist auf einer Exkursion auf ihrem iPad über Apple Maps gestolpert. Sie begab sich hinunter in amerikanische Grossstädte, wo keine Menschen erfasst waren, dafür alles Artifizielle: Die Wolkenkratzer und die Reihenhäuser der Vorstädte, Vergnügungsparks, die Freiheitsstatue, Container, Tanks, Autos, Flugfelder, Brücken, Schiffe. Dinge, die auch militärisch gesehen von Interesse sind, denn genau da haben ja die Luftaufnahmen, die heute jeder benutzt, um die Lage seines Ferienhotels vorzusondieren, ihren Ursprung.
Apple lässt die Dinge via Fotografien und Satellitendaten von allen Seiten erscheinen. So, wie sie sein könnten. Nicht so, wie sie wirklich sind. Doch die Screenshots offenbaren Verblüffendes: Fahrzeuge (sind es Töffs?) sehen aus wie Käfer. Bäume werfen zwar die uns vertrauten – da auch in der Realität zweidimensionalen – Schatten, doch der Baum selbst bläht sich darüber in einem seltsamen Metakörper auf, so als wäre er von Christo eingepackt worden. Fassaden schmelzen dahin wie einst die Uhren von Salvador Dalí oder wirken kühl und kubisch wie Eisblöcke. Über den Wolkenkratzern liegt ein Flimmern, als wären sie Teil einer Fata Morgana.
Exaktheit findet sich in diesen Aufnahmen nicht, sie vermitteln nur Ahnung, Illusionen. Aber vielleicht sieht Regula Bochsler all die Städte ja so, wie sie einmal wirklich sein werden: New York, Baltimore, Chicago, San Diego werden zu unheimlich postapokalyptischen Kulissen, mit Wahrzeichen, die nur noch als Fragmente zu erkennen sind. Die Farbigkeit der Bilder erinnert schon jetzt an ausgebleichte Fotografien, das Aufeinandertreffen von zwei- und ansatzweise dreidimensionaler Wiedergabe an Collagen, die ganze Optik mehr an Malerei denn an Hightech.
Die Bestandesaufnahme von sich aufbäumenden und sich auflösenden Fassaden, Strassen und Maschinen ist der Impressionismus von heute. Er entspricht der Wahrnehmung einer in sich kollabierenden Welt seit 9/11 und seit Fukushima.
Bochslers Appropriation-Art (in der sich hier zu Recht auch das Wort App verbirgt), ist nun – ganz analog - zu einem Bildband mit mehreren lesenswerten Essays geworden und zu einer Ausstellung im Zürcher Architekturforum, wo sich die schönsten Screenshots auch kaufen lassen.
Ironischerweise sind die gerenderten Welten, wie sie Regula Bochsler eingefangen hat bereits wieder Geschichte. Ihr Sohn, der gewissenhafte Nerd, rüstete eines Tages ihr iPad von iOS 6 auf iOS 7 um. Wo all die irritierenden und faszinierenden Fehler, all die Christo-Bäume und die Dalí-Häuser, ausgemerzt waren. Sie ging dann in einen Apple-Shop und bat einen sehr jungen Mann darum, ihr Betriebssystem um eine Generation zurück zu setzen. Er hat sich geweigert. «Das würde Apple nicht gefallen», war die Antwort. Sie suchte deshalb an der Vernissage im Architekturforum händeringend nach einem alten iPad, das sie bis zu seinem Tod nie mehr upgraden will. Ein Filmemacher ohne Kamera ist schliesslich auch nicht denkbar.
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