Wer viele Selfies macht, steht auch sonst gerne im Mittelpunkt. Das dürfte auf Reese Witherspoon zutreffen.Bild: Getty Images North America
Interview mit Medienpsychologin Sarah Genner
«Auf Younow findet der Klassenclown eine neue Plattform»
Auf der Plattform Younow gewähren Teenager einen Einblick in ihr Schlafzimmer. Wächst eine ganze Generation von hoffnungslosen Narzissten heran? Mitnichten, findet die Medienpsychologin Sarah Genner.
Frau Genner, wann haben Sie zum letzten Mal ein Selfie gemacht? Sarah Genner: (lacht) Das war zusammen mit meiner 93-jährigen Grossmutter – als Erinnerung.
Jöö, ein Grosi-Selfie. Wie viele Likes haben Sie dafür bekommen? Ich habe es nicht auf Facebook oder Instagram veröffentlicht. Ich poste zwar viele Bilder, aber keine Selfies.
Sie sind wohl einfach zu alt dafür. Ich glaube nicht, dass es nur eine Generationenfrage ist. Die Persönlichkeit spielt auch eine Rolle: Es sind vor allem extravertierte Leute, die einen Hang zur Selbstdarstellung haben. Ich kenne viele, die älter sind als ich und regelmässig Selfies veröffentlichen.
Medienpsychologin Sarah Genner.
Die Digital Natives als narzisstische Generation. Ist das ein Mythos? Man hat schon die 68er als Narzissten bezeichnet. Jede Generation sucht ihre Identität und will sich dabei von den Eltern abgrenzen. Und zwar mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen. Früher geschah das in erster Linie durch Mode, Musik und Frisuren.
Und heute? Heute gibt es zusätzlich die digitalen Medien. Sie sind eine Art Probebühne, auf der Jugendliche mit Identitäten spielen können. Sie suchen nach Bestätigung von Gleichaltrigen, die sich in Likes und Herzchen ausdrückt.
«Man hat schon die 68er als Narzissten bezeichnet.»
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Die Sozialen Medien fördern aber auch die Selbstdarstellung. Ja, sie sind aber nicht zwingend die Ursache davon. In der westlichen Welt findet schon seit Jahrzehnten ein Trend zur Individualisierung statt.
Woher kommt das? Es ist eine gesellschaftliche Entwicklung, die von verschiedensten Faktoren beeinflusst wird. Was ich sagen kann: In den USA ist die Entwicklung viel stärker ausgeprägt als hier. Und von dort kommen ja die meisten Sozialen Medien. Wir importieren mit ihnen auch ein kulturelles Phänomen.
Das wirkt in der Schweiz manchmal etwas fremd. Richtig. In den USA muss man sich durchsetzen und verkaufen können, wenn man es zu etwas bringen will. Das ist in diesem riesigen Land völlig normal. Wer sich in der Schweiz zu sehr zelebriert, macht sich nicht beliebt. Es trotzdem zu tun, kann eine Form der Provokation sein.
Zur Person
Sarah Genner (32) ist Medienpsychologin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Sie beschäftigt sich dort mit den Auswirkungen von Medien auf den Mensch und die Gesellschaft. Sie ist bis im August 2015 Gastforscherin am Berkman Center for Internet and Society at Harvard University.
Wie meinen Sie das? Sich von den Erwachsenen abzugrenzen, gehört zur normalen Entwicklung von Jugendlichen. Heute geschieht das teilweise über Medien, welche die Erwachsenen nicht verstehen oder gar missbilligen.
«Die Sozialen Medien kommen aus den USA. Wir importieren mit ihnen auch ein kulturelles Phänomen.»
So wie Younow, wo Teenager live aus ihren Schlafzimmern streamen. Zum Beispiel. Wobei das vor allem jene machen, die sowieso gerne im Mittelpunkt stehen und über Sendungsbewusstsein verfügen. Der Klassenclown findet hier eine neue Plattform für seine Faxen.
Mädchen erhalten im Minutentakt Komplimente. Steigt ihnen das nicht zu Kopf? Früher gab es ab und zu Komplimente auf der Strasse, im Internet wird dieser Effekt natürlich verstärkt. Studien haben gezeigt, dass Likes und Komplimente im Netz das Belohnungszentrum im Hirn aktivieren. Das kann ein gewisses Suchtpotenzial haben. Wer aber sonst Anerkennung erhält und ein gesundes Selbstbewusstsein hat, kann sehr gut damit umgehen.
«Es besteht die Gefahr, dass Mädchen durch Kommentare zu fragwürdigen Aktionen angestachelt werden.»
Teenager kommen aber auch früh mit schrägen Typen in Kontakt. Nach Fussfetischisten muss man bei Younow nicht lange suchen. Man begegnet Exhibitionisten nicht mehr nur draussen im Park, sondern auch im Netz. Da besteht die Gefahr, dass Mädchen durch Kommentare zu fragwürdigen Aktionen angestachelt werden. Etwa, ihren Bauch oder ihre Beine zu präsentieren.
Wie können Eltern das verhindern? Indem sie die Jugendlichen zur Vorsicht ermahnen und die digitalen Medien in die Aufklärung einbeziehen. Dass man nicht zu Fremden ins Auto steigt, weiss jedes Kind. Nun muss man ihnen auch beibringen, wo mögliche Gefahren im Internet lauern.
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