Seit dem Halloween-Abend findet in der DeadZone13 eine Party statt. Sie läuft noch bis am 4. November. Für die Musik ist unter anderem Star-DJ Steve Aoki zuständig.
Die DeadZone13 befindet sich nicht in New York, Las Vegas oder Berlin. Der mehrstöckige Tempel befindet sich in Decentraland, einer virtuellen Stadt, gemacht, um virtuelle Leben auszuleben, virtuelles Geld auszugeben, virtuelle Dinge zu produzieren, virtuell zu existieren.
Hanging out in #Deadzone13 with @steveaoki @Deadfellaznft pic.twitter.com/tC8aGf2Ne9
— N A Ï M (@naimsays) November 1, 2021
Bezahlt wird in Decentraland mit der Kryptowährung «Mana». Mit Mana kann man sich zum Beispiel eine 16-mal-16-Meter grosse Parzelle kaufen. Günstig ist das Grundstück nicht (mehr). Die billigste Parzelle kostet umgerechnet 10'800 Franken (Stand: 1.11.2021, 13:35 Uhr).
Dafür darf man darauf bauen, was man will – zum Beispiel sein eigenes Haus. Aber das ist ein bisschen langweilig. Deshalb bauen die Benutzer virtuelle Zoos, Clubs, Kampfarenen, Casinos oder Shops für virtuelle Güter. Zum Beispiel für Turnschuhe. Erstellt werden die Objekte mit einer handelsüblichen 3D-Software (Maya, Cinema 4D, Blender). Danach werden sie nach Decentraland importiert und dort feilgeboten – auf dass andere Besucher sie erstehen und sie in Decentraland benutzen können. Erreicht der Schuhmacher innerhalb der Community Kultstatus, kann der Träger der Schuhe sie später gewinnbringend weiterverkaufen. Secondhand ist im virtuellen Fall etwas weniger problematisch – im Gegenteil sogar.
Das Meiste, was die Besucher von Decentraland sehen und erleben, ist «user generated» – von Benutzern erstellt: Gebäude, Kleider, Aktivitäten, Tiere, Fahrzeuge usw. Die Rolle der Decentraland-Entwickler besteht hauptsächlich darin, möglichst gute Voraussetzungen und Werkzeuge zu erschaffen, um den virtuellen Raum – die Sandbox (den Sandkasten) – zu bespielen. Der Begriff Sandbox fällt nicht zufällig. Decentraland ist nicht alleine. «The Sandbox» heisst eine der Konkurrenz-Welten. Eine andere, Treeverse, wird gerade entwickelt. Obwohl noch nicht spielbar, wird das Recht auf ein virtuelles Haus dort bereits gehandelt, aktuell zum Preis von 11'000 Dollar (Stand 2.11.2021).
We bring you... an early concept look of the Treeverse graphics.
— Treeverse (🌱) (@TheTreeverse) October 6, 2021
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Die spielerischen Aspekte dieser Welten sind das eine, die schöpferischen und vor allem kommerziellen das andere. Damit unterscheiden sich Decentraland und Co. fundamental von Vorgängern wie «Habbo Hotel», «The Sims» und auch «Second Life»: Die monetären Anreize sind kein Nebenprodukt. Sie stehen im Zentrum. Das wird über kurz oder lang zu Problemen führen. Decentraland hat für Casinos ein eigenes Viertel reserviert. Vegas City liegt, Überraschung, gleich neben dem virtuellen Rotlichtviertel.
In Vegas City wird um Mana gezockt. Im Event-Katalog nehmen sie einen Grossteil der Veranstaltungen ein, während der reale Online-Casino-Markt in den USA zum Teil stark reguliert ist (Casinogesetze unterliegen den einzelnen Bundesstaaten).
Die Hintertüre in die lukrative Glücksspielbranche, die hier gefunden wurde, wird nicht für immer so offen sein. Aktuell boomt der Markt allerdings. Erst kürzlich suchte ein Decentraland-Casino Angestellte – also nach realen Personen, welche die Rolle von virtuellen Angestellten in den Casinos übernehmen. Auch in Sachen Livestreams bieten virtuelle Welten neue Möglichkeiten. Technisch wäre es bereits heute möglich, einem Publikum einen realen kostenpflichtigen Boxkampf zu streamen – und dafür virtuellen Eintritt zu verlangen. Ob dies bereits geschehen ist, entzieht sich unserer Kenntnis.
Die Sanktionierung von etwaigem Fehlverhalten gestaltet sich indes schwieriger. Sowohl in Decentraland, wie auch bei The Sandbox und Treeverse wird beim Besitz von Gütern auf NFTs gesetzt. Diese befinden sich auf dem persönlichen, in der Regel unantastbaren Konto der Besucher und sind (im besten Fall) anonym. Einem potenziellen Missetäter kann also nicht einfach Land, Kino oder Casino weggenommen werden – weil keine Autorität darauf zugreifen kann.
Die virtuellen Möglichkeiten sind aktuell grenzenlos. Und diverse gute Voraussetzungen bewässern den fruchtbaren digitalen Boden. Mit NFTs lassen sich virtuelle Dinge (endlich) tatsächlich besitzen, Kryptowährungen erzielen fast schon täglich Höchstwerte, die Pandemie legte das reale Leben lahm und zwang viele Menschen in die eigenen vier Wände, die früher unbezahlbaren Tools, um im digitalen Bereich kreativ zu werden, sind heute so gut und günstig wie noch nie – und die Aussichten, damit Geld zu verdienen, sind rosig. Für simple JPG-Bilder werden Millionen bezahlt.
Dies hat dazu geführt, dass bei Plattformen wie Decentraland ein Netzwerkeffekt einsetzte. Immer mehr neue Besucher strömen darauf, immer mehr Kreative toben sich aus. Es findet eine Sogwirkung statt. Längst handelt es sich nicht mehr um ein einfaches Videospiel. Hier wird nach allen Regeln der Kunst gewirtschaftet, Einkommen generiert, ausgegeben, Legenden geschaffen. Weil es sich um ein so junges Phänomen handelt, sind die Sieger andere als im realen Leben. Es sind die, die bereits herumgeisterten, als Decentraland noch verlassen und leer war. Es sind Leute, welche den Boom haben kommen sehen, NFT-Besitzerinnen, Gamer, Sammlerinnen, Kreative, Tech-Liebhaberinnen, Incels, Studentinnen, abtrünnige Wallstreetspekulanten, Visionärinnen, arbeitslose Jugendliche ... die Gruppe ist in keinster Weise homogen.
Nur eines haben die meisten gemeinsam: Klarnamen mögen sie nicht besonders.
Treeverse wurde von einem Herrn namens Loopify gegründet. Viel mehr als ein lustiges Twitterpseudonym ist von ihm nicht bekannt – und dass er dank eines feinen Näschens für neue NFT-Projekte ein Vermögen verdiente. Die Initiantin der Aoki-Party, die Co-Kreateurin der NFT-Avatarserie «DeadFellaz», ist unter Betty_nft bekannt und laut eigenen Angaben eine Mutter dreier kleiner Kinder. That's it. Mit realem Namen tritt sie nicht auf. Fotos gibt es sowieso keine. Schon gar nicht in den sozialen Medien. Stattdessen werden sogenannte PFP-NFTs benutzt (PFP = Profile Picture).
I am a woman, raising 3 daughters under 6, still breastfeeding my youngest. I built and run a multi million dollar project & brand from my home, changing my life and my children’s lives. I am my own dreams come true and herein lies the power of NFTs.
— BΞTTY (@betty_nft) September 27, 2021
Die scharfe Trennung von realem Leben und virtueller Persönlichkeit ist bewusst gewählt. Wer sich so tief in der digitalen Welt bewegt, erntet in der realen im besten Fall Stirnrunzeln. Das Unverständnis ist gross. Wieso bezahlen Menschen tausende von Franken für kopierbare kleine JPG-Files? Wieso braucht es eine virtuelle Welt, wenn die reale «dOcH SO scHön ISt»? Weshalb kaufen Menschen digitale Häuser für ein Vermögen, wohnen aber noch zu Hause bei der Mutter? Und dann sind da noch die Bedenken von wegen virtuellem Rotlicht und Casino-Viertel.
Dass in der virtuellen Welt die Karten neu gemischt werden, scheint vielen zu entgehen. Hier können Menschen erfolgreich sein, welche von der Sonnenseite der kapitalistischen Gesellschaft bisher wenig abkriegten. Die virtuelle Welt als Chance. Auch dafür, dem Gewinner-Stereotyp in der realen Welt ein Schnippchen zu schlagen. Zigarrenrauchende Silberfüchse mit gebleachten Zähnen und Haus am Meer tummeln sich eher selten hier. Hier, im Metaverse.
Jetzt ist der Begriff endlich gefallen: Metaverse.
So heisst dieses Phänomen aus digitalen Lebensräumen. Es ist schwer zu fassen. Auch Wikipedia hilft nicht wirklich weiter:
Und? Alles klar?
Auch wir versuchen es mit einer Definition: Das Metaverse ist überall dort, wo die digitale Identität die reale überlagert und die Möglichkeit besteht, der digitalen Identität Profil zu verleihen.
Die Unterscheidung zwischen einer digitalen und einer realen Identität ist wichtig, weil – wie oben erläutert – selten deckungsgleich. Das Metaverse ist ein bisschen wie ein DC-Comic. Normale Leute legen sich am Abend eine andere (digitale) Identität zu – und werden zu Batman und Catwoman. Doch wie im DC-Universum geht das nur mit Anonymität. Eine Enttarnung muss tunlichst verhindert werden. Und dieses Bedürfnis beisst sich mit Facebook.
Facebook hat letzte Woche seinen Namen geändert. Nicht die Social-Media-Plattform, aber das Firmengebilde dahinter. Neu heisst das Konstrukt Meta Plattforms. Gleichzeitig wurde die eigene Vision des Metaversums präsentiert.
Schon nach wenigen Minuten erwähnt Mark Zuckerberg, wie wichtig Privatsphäre und Sicherheit im Metaverse seien. Er weiss um die Wichtigkeit von Anonymität im Metaversum. Aber wenn er die Wichtigkeit von Privatsphäre und Sicherheit herausstreicht, wirkt es, wie wenn am Weihnachtsessen der jungen FDP plötzlich der Vorstand die «Internationale» anstimmt: ironisch – oder betrunken.
Das bisherige Businessmodell der wichtigsten Dienste von Meta Plattforms besteht darin, deren Benutzer möglichst genau zu durchleuchten, um ihnen später gezielt Werbung auszuspielen. Sei das mit Facebook oder Instagram. Die Gier nach möglichst vielen persönlichen Daten geht mit WhatsApp noch einen Schritt weiter.
Dies steht diametral entgegen allem, was aktuell im Metaverse praktiziert wird. Im Partyvideo im Tweet oben lässt sich keine einzige Person mit Klarnamen finden. Facebook und Instagram spielen in der aktuellen NFT-Szene nicht die geringste Rolle – und das, obwohl sich Instagram als Bilderplattform eigentlich dafür anbieten würde.
Die Social-Media-Plattform des Metaversums ist aktuell Twitter. Von dort aus verkriechen sich die verschiedenen Grüppchen in Discord-Channel – wo sie ebenfalls anonym auftreten.
Mark Zuckerberg kann auf eine enorme Kriegskasse zählen. In einem Interview verriet er, dass die Bilanz von Facebook im letzten Jahr um zehn Milliarden besser ausgefallen wäre, hätte er nicht in Tools für das Metaverse investiert. Eine enorme Summe. Damit finanziert Meta zum Beispiel das Projekt Ego4D, das darauf abzielt, Videomaterial von Augmented-Reality-Brillen mit künstlicher Intelligenz auszuwerten. Man braucht keine blühende Fantasie zu haben, um die Sprengkraft einer solchen Maschinerie zu antizipieren: Überwachung ohne Grenzen, unbemerkt und ohne vorherige Einwilligung. Von einer privaten, amerikanischen Firma. Die Gesichtserkennungssoftware hat Facebook ja bereits.
Apropos Gesichtserkennung. Meta hat angekündigt, genau dieses Programm in den nächsten Wochen einzustellen. Rund ein Drittel aller Facebookuser, ca. eine Milliarde Menschen, hatten die Software bisher aktiviert. Die gespeicherten «Faceprints» sollen gelöscht werden. Der Guardian spekuliert, es handle sich dabei um einen PR-Stunt, weil Meta sein ramponiertes Image polieren möchte.
Meta mag zwar viel Geld für Technologie ausgeben können, Vertrauen aber muss man sich verdienen. Ohne Vertrauen wird Meta Plattforms im Metaverse nicht erfolgreich sein. Dafür muss ein unvergleichlicher Imagewechsel vollbracht werden. Ob ein solcher mit Mark Zuckerberg an der Spitze gelingt, wird sich zeigen. Zweifel sind auf jeden Fall berechtigt.
Zurück zur Party in der DeadZone13. Gerne hätten wir selbst kurz teilgenommen. Zutritt hat aber nur, wer über ein NFT der Serie DeadFellaz verfügt. Kostenpunkt aktuell: 2200 Dollar.
Dann bleiben wir halt draussen.
Wer hat jetzt Lust, ein bisschen genauer zu erfahren, um was es in Decentraland geht? Wir empfehlen dieses Einsteigervideo (Englisch).