Endlich. Am Montagnachmittag sind die Helden aus Übersee eingetroffen. Sie kamen vom Himmel herunter mit Charterflügen aus New York und Atlanta direkt nach Sotschi. Die NHL-Spielergewerkschaft hat die Reise organisiert. «Der Komfort war grossartig» sagt Damien Brunner zu watson. «Alles Business-Klasse-Sitze.» Nobel reisen die Dollar-Millionäre.
Um 18.15 Uhr standen die neun Stars aus der berühmten nordamerikanischen National Hockey League (NHL) bereits zum ersten Mal zusammen mit ihren Spielkameraden aus der NLA auf dem Eis.
Es lohnt sich, die Namen noch einmal zu nennen. So ein Team hat es in der Geschichte unseres Hockeys (seit 1908) noch nicht gegeben. Die Torhüter Reto Berra (Calgary) und Jonas Hiller (Anaheim). Die Verteidiger Raphael Diaz, Yannick Weber (Vancouver) Mark Streit (Philadelphia) und Roman Josi (Nashville) sowie die Stürmer Simon Moser (Nashville), Nino Niederreiter (Minnesota) und Damien Brunner (New Jersey). Bei der Silber-WM waren «nur» fünf dabei (Berra, Diaz, Josi, Niederreiter, Moser). Wir können es uns gar leisten, auf Luca Sbisa zu verzichten.
Wir haben also in Sotschi wahrlich die beste und auch teuerste Nationalmannschaft aller Zeiten. Alleine die Salärsumme der neun NHL- Stars beträgt 18,88 Millionen Dollar. Mehr als das Budget des SC Bern. Das olympische Hockey-Team von Sotschi ist die Titanic unseres Hockeys.
Am 10. April 1912 ist die Titanic in Southampton unter dem Kommando von John Edward Smith zu ihrer ersten Fahrt ausgelaufen. Er galt als einer der erfahrensten und besten Kapitäne seiner Epoche. Am 10. Februar 2014 hat die Olympia-Expedition der Schweizer Hockey-Titanic unter dem Kommando von Sean Simpson in Sotschi mit dem ersten Training der kompletten Mannschaft offiziell begonnen. Er gilt als einer der besten Nationaltrainer unserer Zeit.
Auch wenn unser Nationalteam nicht als unbesiegbar und sportlich unsinkbar gilt - nie zuvor waren die Erwartungen vor einem Titelturnier so himmelhoch. Schliesslich standen wir zuletzt im WM-Finale.
Nationaltrainer Sean Simpson versteht die Anspielung eines vorwitzigen Zaungastes auf die Titanic sehr wohl. «Ich kenne die Geschichte. Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden alles tun, damit wir heil in New York ankommen.» Die Titanic, die als absolut unsinkbar galt und das bis dahin beste Schiff aller Zeiten war, ist damals auf dem Weg nach New York in den Fluten des Atlantiks versunken.
Ein olympisches Turnier ist unberechenbar. Das Achtelfinale haben wir selbst bei Niederlagen in den drei Gruppenspielen gegen Lettland, Tschechien und Schweden auf sicher.
Geht die Hockeytitanic im Achtelfinale ruhmlos unter und versinkt im Ozean der Polemik, dann wird uns wohl wochenlang die Frage beschäftigen, ob Sean Simpson auch in Zeiten des sportlichen Untergangs auf der Kommandobrücke bleiben soll wie Kapitän Edward John Smith auf der Titanic – oder ob nicht ein schneller Abgang wie jener von Kapitän Francesco Schettino von der Costa Concordia für alle besser wäre.
Der Schlüssel zum WM-Silber war der enorme Zusammenhalt des Teams. Alles funktionierte. Alles stimmte. Ist auch hier in Sotschi noch etwas von diesem «Silber-Grove» zu spüren? Raphael Diaz gehört zu den Silberhelden und ist jetzt wieder dabei: Er sagt es so: «Ich sehe zumindest viele bekannte Gesichter…»
Die fehlende Vorbereitung – vor dem ersten Spiel am Mittwoch gegen Lettland (18.00 Uhr Schweizer Zeit) kann die Mannschaft komplett mit allen NHL-Stars nur zwei Trainings absolvieren – wird als Ausrede im Falle eines Falles nicht taugen. Damien Brunner sagt: «Die Taktik ist ja seit vier Jahren praktisch unverändert. Wir haben uns daran gewöhnt.» Und Sean Simpson hat Erfahrung in der Zusammenstellung von Teams aus dem Stand heraus. So hat er schon mit Team Canada den Spengler Cup gewonnen.
Begonnen hat diese olympische Expedition eher wie ein Ferienausflug. Die zwei Testspiele gegen Norwegen und Russland hier in Sotschi fürs Finetuning des Teams mussten annulliert werden. Weil nach der Eröffnungsfeier die olympischen Anlagen nicht mehr für Testwettkämpfe benutzt werden dürfen. Scheitern wir früh, wird diese unprofessionelle Vorbereitung noch einmal thematisiert. Ansonsten wird sich nie mehr jemand daran erinnern.
Sean Simpson und die Spieler sind gut gelaunt, locker und selbstsicher. Die mentalen Früchte des silbernen WM-Ruhms. Diese Gelassenheit und Zuversicht hat es so vor einem Titelturnier noch nicht gegeben. Die Vorzeichen könnten besser nicht sein. Das war aber auch beim Auslaufen der Titanic so.