Wir haben schon ein paar märchenhafte Bronze-Medaillen gewonnen. Zum Beispiel 1968 in Grenoble im Langlauf über 50 Kilometer durch Sepp Haas. Oder 1972 durch die 4 x 10 Kilometer Langlauf-Staffel in Sapporo.
Doch die Hockey-Medaille der Frauen in Sotschi übertrifft alles, was bisher war. Es ist die erste Hockey-Olympiamedaille seit 1948 (Bronze) und es ist das Happy-End eines Hockeymärchens, das 2004 mit einem «Jahrhundert-Tor» in Peking begonnen hat. Die Zeit war schon abgelaufen und China für die Spiele 2006 in Turin qualifiziert. Aber die Uhr wurde noch einmal um 6 Sekunden zurückgestellt und diese Zeit nützten die Schweizerinnen für den Siegestreffer zum 3:2 und die Qualifikation für die Spiele in Turin. Sie erblickten sozusagen zum ersten Mal das Licht der Sportöffentlichkeit.
Coach René Kammerer war damals schon dabei. Von den Bronze-Heldinnen unter anderem Torhüterin Florence Schelling und die Marty-Zwillinge. Julia Marty sagt, nicht einmal im Traum hätte damals jemand an eine Olympia-Medaille gedacht. «Aber 2012 haben wir bei der WM den dritten Platz geholt. Von diesem Moment an wussten wir: Es ist möglich.» Sie sagt, die Erfahrungen auf dem Weg nach Sotschi hätten letztlich den Erfolg möglich gemacht. «Wir haben schon Viertelfinals verloren, später Halbfinals und an einer WM auch schon ein Bronzespiel. Aber es ist uns immer gelungen, diese Rückschläge zu verarbeiten.»
Das Bronze-Spiel gegen Schweden war ein veritables Sport-Drama. 40 Minuten lang kamen die Schweizerinnen nicht ins Spiel. In der zweiten Pause lagen sie scheinbar hoffnungslos 0:2 zurück. «Wir brauchten 40 Minuten um in dieses Spiel zu kommen», sagt Coach René Kammerer. «Der Druck war einfach zu gross.» Florence Schelling sagt, schon bei Mittagessen seien alle ungewöhnlich nervös gewesen.
Julia Marty sagt, in der zweiten Pause sei die Entschlossenheit zurückgekehrt. «Wir hatten noch 20 Minuten Zeit, um unseren Traum zu verwirklichen. Diese 20 Minuten wollten wir einfach nützen und jede von uns glaubte daran, dass es möglich ist. Wir haben uns gegenseitig auch während des Spiels auf der Bank immer wieder aufgemuntert.» Es habe nicht einmal eine dramatische Ansprache in der Kabine gegeben. «Das war nicht nötig.»
Art und Weise wie sie im letzten Drittel das Spiel drehten, gehört in die Sportpsychologielehrbücher. Alles, was über «Nicht aufgeben!» oder «Wir glauben daran!» oder «Teamwork» gelehrt wird, ist von den Schweizerinnen in die Tat umgesetzt worden. Und das ausgerechnet mit dem Tor-Song der…Lakers. Jedes Team durfte für Sotschi den Song wählen, der bei einem Tor in die Stadion-Soundanlage gespielt wird. Die Schweizerinnen wählten «J’adore hardcore». Weil sie sich bei einem Tor richtig freuen und dazu tanzen wollten. Viermal tanzten sie im Schlussdrittel zu dieser Melodie.
In 20 Minuten erzielten sie mehr Tore als die Männer in vier Partien. Und die Bronze-Heldinnen haben nicht nur die Hockeyliebhaber hinter dem Ofen hervorgeholt. Sie holten auch die Verbandsgeneräle hinter den Säulen hervor. Bei der Medienkonferenz nach dem bitteren 1:3 der Männer gegen Lettland versteckten sie sich hinter den Säulen des Konferenzraumes um nicht Red und Antwort stehen zu müssen. Bei der Medienkonferenz nach dem 4:3 der Frauen gegen Schweden präsentierte sich Verbandspräsident Marc Furrer den Medien.
Coach René Kammerer sagt, er trete nun unwiderruflich zurück. «Ich habe 2004 mit der Qualifikation für Turin 2006 mit einem ‹Big Bang › begonnen und nun höre ich mit einem ‹Big Bang› auf.» Er erhoffe sich, dass nach diesem Erfolg dem Frauenhockey endlich mehr Respekt entgegengebracht werde. Das schönste Beispiel, wie Frauenhockey in unserem Land eingestuft wird, ist eine nette PR-Aktion des Bezahlsenders Tele Club aus der Saison 2011/12.
Die schöne Moderatorin Annette Fetscherin nahm damals als Hobby-Schlittschuhläuferin das Eishockey-Training auf um es innerhalb ein paar Monaten grad bis ins Frauennationalteam zu bringen. Sie durfte tatsächlich gegen die Slowakei für einen einzigen Einsatz aufs Eis. Weil es ein wenig Publizität brachte, ertrugen die Hockey-Frauen diese Demütigung.
Gab es je ein Team mit einem grösseren Zusammenhalt? Vielleicht nicht. Die 15-jährige Alina Müller assistierte zum 2:2 und erzielte ins leere Tor den vierten, letztlich alles entscheidende Treffer. «Unser Zusammenhalt ist einfach unglaublich», hatte Julia Marty schon im Laufe des Turniers gesagt: «Die älteren Spielerinnen helfen den jüngeren.»
Die Schweizerinnen waren bereits am 1. Februar im olympischen Dorf eingezogen. Drei Wochen sind eine sehr, sehr lange Zeit und bringen viele Teams in Schwierigkeiten (Lagerkoller). Aber die Bronze-Heldinnen sind mit jedem Tag stärker geworden. Dieser Zusammenhalt und diese Leidenschaft haben es möglich gemacht, dass das jüngste, kleinste und leichteste Team Russland aus dem Turnier kippen und Schweden im Kampf um Bronze besiegen konnte. Zum ersten Mal hat ein andres Team als Kanada, USA, Schweden oder Finnland eine olympische Medaille im Frauenhockey gewonnen.
Nun können die Schweizerinnen ausgiebig feiern: Sie bewohnen im Olympischen Dorf unten am Meer ein Haus gemeinsam mit dem Männer Hockeyteam und den Curling-Frauen und Curling-Männern. Jessica Lutz rühmt die Hockey-Männer. «Sie haben bei ihrer Rückkehr ins olympische Dorf nie Lärm gemacht und uns nie geweckt. Es sind wirklich Musterprofis.»
Die Hockey-Männer sind nach Hause gereist, die Curlerinnen und Curler haben ihre Wettkämpfe auch bestritten. Ein ganzes Haus als sturmfreie Bude. «Es wird eine spezielle Feier», sagt Coach René Kammerer.
Der erste offizielle Gratulant unten in den Katakomben war René Fasel. Der Präsident des Internationalen Eishockeyverbandes (IIHF) und IOC-Mitglied umarmte Torhüterin Florence Schelling. Sie arbeitet am IIHF-Hauptsitz in Zürich. «Ihre Mutter kommt wie ich aus Freiburg. Als sie sich nach der Rückkehr aus Nordamerika auf eine ausgeschriebene Stelle bei uns beworben hat, habe ich sofort gesagt: Die nehmen wir.»
Haben sich je Spieler oder Spielerinnen so sehr über eine Medaille gefreut wie die Schweizerinnen hier in Sotschi? Wahrscheinlich nicht. Es war einer der emotionalsten Momente in der Schweizer Sportgeschichte.