413 Millionen Stimmberechtigte haben das neue Parlament gewählt. Die 751 Abgeordneten werden seit 1979 jeweils für fünf Jahre gewählt. Die Anzahl pro Land richtet sich nach der Bevölkerungsgrösse. Deutschland konnte 96 Parlamentarier bestimmen. Das Europaparlament ist die einzige Institution der EU, die von den Bürgern direkt gewählt wird. Alle anderen Organe wie etwa der Ministerrat (Rat der EU) werden indirekt besetzt. Mit dem Vertrag von Lissabon erhielt das Parlament 2009 grössere Kompetenzen, etwa im Bereich der Gesetzgebung und bei Budgetfragen. Die grösseren Kompetenzen gehen mit einem gesteigerten Selbstbewusstsein der Parlamentarier einher. So soll der Präsident der EU-Kommission neu aus den eigenen Reihen stammen.
Die EU-Kritiker werden rund 140 der 751 Sitze erhalten. Zählt man die britischen Konservativen und die Linksradikalen hinzu, die ebenfalls häufig EU-skeptische Positionen einnehmen, sind es sogar fast 230. Allerdings sind die Rechtspopulisten keine homogene Gruppe. Die Dänische Volkspartei etwa will nicht mit dem Front National koalieren und der Niederländer Geert Wilders nicht mit der ungarischen Jobbik. Die britische UKIP kocht ohnehin ihr eigenes Süppchen. Insgesamt sind die Anhänger einer starken Union nach wie vor klar in der Mehrheit. In strittigen Fragen wird es wohl häufiger zu einer «grossen Koalition» von Konservativen und Sozialdemokraten kommen. Wobei diese schon bisher in zwei Dritteln aller Abstimmungen gleich votierten.
Für die Verhandlungen mit der Schweiz ist die EU-Kommission zuständig. Das Parlament hat praktisch keinen Einfluss. Es muss aber ein neues bilaterales Vertragswerk absegnen. EU-Gegner glauben, dass ein «rechteres» Parlament positiv für die Schweiz sein wird. Die Kommission werde von ihrer harten Haltung abrücken und Konzessionen machen müssen. Europakenner aber halten nichts davon: «Wenn diese Wahl überhaupt einen Einfluss hat, dann ist er sicher nicht zugunsten der Schweiz», sagte der Politologe Dieter Freiburghaus in einem Interview mit Swissinfo. Sollten Kommission und Ministerrat der Schweiz Zugeständnisse machen, könnte sich das Parlament sogar querlegen, denn es sehe sich «als Wächter der europäisch korrekten Lehre».
Um die Besetzung droht ein Machtkampf zwischen Parlament und Europäischem Rat. Bis anhin bestimmte der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, das Kommissionspräsidium. Es wurde vom Parlament lediglich abgesegnet. Nun werden die Karten neu gemischt: Die Spitzenkandidaten der grossen Parteiblöcke, Jean-Claude Juncker (Volkspartei) und Martin Schulz (Sozialdemokraten), haben Anspruch auf den Posten angemeldet. Der Europäische Rat muss das Ergebnis der Europawahl jedoch nur berücksichtigen, er ist nicht daran gebunden. Setzt sich das Parlament mit einem seiner Vertreter durch, hätte dies Signalwirkung. Erstmals würde ein Kommissionspräsident nicht ernannt, sondern – zumindest indirekt – vom Volk an die Spitze der EU gesetzt.
Jean-Claude Juncker ist ein erklärter Freund der Schweiz. Er vertritt den Finanzplatz Luxemburg und hat einiges Verständnis für die Positionen der Schweiz. Von Martin Schulz kann sie nicht viel erwarten. Allerdings ist unklar, ob die Staats- und Regierungschefs einen der Beiden wählen werden oder am Ende doch einen Anderen. Auch sonst wird sich einiges ändern: Chefunterhändler David O'Sullivan geht als EU-Botschafter nach Washington. Und selbst mit einem Präsidenten Juncker wird sich die Schweiz wenig Hoffnungen auf einen Kompromiss machen können.
Der Front National wurde mit gut 25 Prozent erstmals stärkste Kraft in Frankreich. Parteichefin Marine Le Pen forderte nach dem historischen Triumph Neuwahlen. Die anderen Parteien werden ihr diesen Gefallen nicht tun, besonders nicht die regierenden Sozialisten, die bei der Europawahl noch auf 14 Prozent kamen und bei Neuwahlen mit einem Debakel rechnen müssen. Stattdessen fordern Staatspräsident François Hollande und Ministerpräsident Manuel Valls, Europa müsse neu ausgerichtet werden, weg von der Sparpolitik hin zu mehr Wachstum und Beschäftigung. Konflikte mit Bundeskanzlerin Angela Merkel sind damit programmiert.
Die EU-feindliche United Kingdom Independence Party (UKIP) ist die grosse Siegerin der Europawahl, während die regierenden Konservativen ein Jahr vor der nächsten Unterhauswahl nur auf Platz 3 kamen. Premierminister David Cameron dürfte noch stärker unter Druck des rechten Flügels seiner Partei geraten. Bereits gibt es Forderungen, die für 2017 geplante Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft Grossbritanniens vorzuziehen. Die Regierung will allerdings nichts überstürzen. Ob die Briten tatsächlich für den Austritt stimmen werden, ist keineswegs sicher. Namhafte Wirtschaftskreise setzen sich für den Verbleib in der Europäischen Union ein.