In der «NZZ» tobt seit Wochen eine Debatte über Veganismus. Der «Tages-Anzeiger» berichtet derweil ausführlich über eine «Fair Food»- Initiative der Grünen: Essen ist nicht mehr einfach bloss Nahrungsaufnahme, Essen ist zum politischen Akt geworden.
Die aktuelle Food-Debatte erinnert an die Sex-Debatte der 1960er-Jahre. Mit dem etwas holprigen Slogan: Wer zweimal mit dem gleichen pennt, gehört zum Establishment und gestützt auf die Theorien von Sigmund Freud und vor allem auf dessen Schüler Wilhelm Reich, wurde sexuelle Befreiung mit politischer Freiheit gleichgesetzt.
Unterdrückte Sexualität führe zu autoritären Vätern, Gewalt und einer faschistoiden Gesellschaft, lautete damals die schlichte Argumentation. Sie hatte Erfolg. Die sexuelle Revolution hat die meisten Tabus der Nachkriegsgeneration hinweggefegt und zu einem lockeren Umgang mit der Sexualität geführt.
Umgekehrt wurde in den 1960er-Jahren kaum über Ernährung diskutiert. Gegessen wurde, was die Mutter auf den Tisch stellte. Heute können oder wollen viele Mütter gar nicht mehr kochen, und wenn, dann müssen sie sich hüten, was sie auf den Tisch stellen. Wie die Sexualität in den 1960er-Jahren ist das Essen politisiert worden.
Dabei sind Partei-ähnliche Bewegungen entstanden. Es gibt die Fleischesser, die Flexitarier, die Vegetarier und die Veganer.
Die Trennlinie verläuft nicht nur entlang der Fleisch-Frage. Es gibt mittlerweile «gute» und «schlechte» Kalorien, man streitet sich über die Definition von bio und darüber, ob man gleichzeitig hedonistisch und vegan leben kann. Und es tauchen Fragen auf: Kann sich ein richtiger Mann vegan ernähren? Leben Vegetarier länger und selbstverständlich: Sind sie bessere Liebhaber?
Seit es Menschen gibt, werden sie vom Essen geprägt. Der bedeutende Ethnologe Claude Lévi-Strauss hat in seinem Werk «Das Rohe und das Gekochte» aufgezeigt, wie beim Kochen Natur in Kultur verwandelt und dabei den Menschen kulturelle Identität vermittelt wird. Kochen ist beides, Ausdruck und Voraussetzung für eine humane Kultur.
Nur weil die Menschen die Kunst des Kochens beherrschen, haben sie auch Zeit dafür, Kultur zu schaffen. Gekochte Nahrung erspart dem Menschen täglich rund vier Stunden Essens- und Verdauenszeit. Anders ausgedrückt: Ein grosses Gehirn ermöglicht einen kleinen Magen.
Die moderne Nahrungsmittelindustrie hat dieses Prinzip auf die Spitze getrieben. Fastfood wird vor unseren Augen, Convenience Food zuhause im Mikrowellen-Herd zubereitet, beides innert Minuten.
Dieser Industriefood kann jedoch nur mit Salz, Zucker und Fett halbwegs essbar gemacht werden und muss zudem mit unzähligen Zusatzstoffen aufgepeppt werden, damit es die Strapazen der industriellen Fertigung und Lagerung übersteht. Die Folgen sind hinreichlich bekannt: Fast- und Convenience Food macht die Menschen dick und krank.
In der Food-Debatte geht es nicht nur um Lifestyle und Gesundheit, es geht auch um Geld und Politik. Beim Convenience Food haben mächtige Nahrungsmittel-Multis das Sagen, Unternehmen wie McDonald’s und Coca Cola, aber auch wie Nestlé, General Food, und Unilever. Sie setzen ihre geballte Lobby-Macht dazu ein, um ihre Interessen durchzudrücken. Auf der Strecke bleibt dabei der gesunde Menschenverstand. So ist es in den USA der Lobby gelungen, Tomatensauce auf Fertigpizzas als Gemüse zu deklarieren, um die längst fällige Umstellung der Schulkantinen auf gesunde Ernährung zu blockieren.
Industrielle Nahrungsmittel trägt zu einem guten Teil zur Klimaerwärmung bei, sei es mit Methan furzenden Kühen, die unter erbärmlichen Umständen gemästet und geschlachtet werden, sei es mit den unsinnig langen Transportwegen, die heute Lebensmittel vielfach zurücklegen. Nahrungsmittel eignen sich nicht, in einer globalen Supply Chain hergestellt zu werden. Sie sollten nach Möglichkeit regional oder gar lokal produziert werden.
Die Food-Debatte wird gelegentlich sektiererisch geführt. Das kann lächerliche Auswüchse haben wie etwa: Darf man mit gutem Gewissen Honig essen oder nicht? Trotz den oft scheusslichen Zuständen in der Fleischindustrie, ist auch die moralische Lufthoheit, die Vegetarier und Veganer für sich beanspruchen, nicht gerechtfertigt. Die Frage, ob der Mensch Tiere töten und essen darf, lässt sich philosophisch nicht klären. Es gibt schliesslich auch Karnivoren unter den Tieren.
All dies soll nicht darüber hinweg täuschen, dass die aktuelle Food-Debatte nötig und richtig ist. Die texanische Food-Aktivistin Frances Moore Lappé bringt es treffend auf den Punkt: «Wenn die Lebensmittel uns krank machen, und wenn wir einen grossen Teil der Lebensmittel wegschmeissen, obwohl hunderte von Millionen Menschen hungern – dann kann das System nicht mehr weiter so funktionieren.»
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)