Manchmal würde es von simplem Respekt zeugen, wenn die Medien vor dem Schreiben recherchieren würden. Das gilt in diesem Fall auch für uns. Denn auch wir meldeten letzte Woche ganz überenthusiasmiert, dass Kristen Stewart jetzt mit ihrer «persönlichen Assistentin» Alicia Cargile liiert sei. Alle meldeten das so. Obwohl Alicia Cargile eine Frau mit einem eigenständigen Beruf ist, keine Abhängige von Kristen Stewart.
Alicia Cargile arbeitet nämlich seit zwei Jahren bei der Nomad Editing Company in Santa Monica, sie hat dort die Special Effects für «Kill Your Darlings» mit Daniel Radcliffe gemacht und für Werbespots von Starbucks und Hyundai. Davor war sie für Produktion und Postproduktion zahlreicher Musikvideos, etwa für Alicia Keys, Maroon 5 oder Ke$ha, verantwortlich. Eine Frau mit einem satten Portfolio und viel Erfahrung also, die sich bedanken würde für einen 24-Stunden-Celebrity-Sklaven-Job als Assistentin eines Hollywoodstars.
Dass die Medien letzte Woche die Liebe der beiden weltweit verkündeten, geschah bloss zufälligerweise, weil Kristen Stewarts Mutter in einem Interview davon erzählt hatte. Und plötzlich stand es da, plötzlich gab es keine Ausreden mehr: Kristen Stewart liebt jetzt eine Frau. Liebt, liebt, liebt. Plötzlich wurde daraus die aufgebauschte Coming-Out-Story des Sommers.
Dabei waren die beiden zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Monate zusammen und versteckten dies nicht. Sie küssten sich am Strand von Hawaii, sie gingen zusammen einkaufen, sie besuchten das Coachella-Festival, sie wohnten zusammen, sie waren, für alle sichtbar, ein Paar. Entspannt, glücklich. Alles war klar. Bloss sagte es niemand so richtig. Und was nicht gesagt ist, ist nicht wahr. Ist ein Tabu.
Die Paparazzi-Presse gab sich also verklemmt, berichtete in den teilnahmslosesten Sätzen über die beiden und fragte nicht ein einziges Mal nach Cargiles richtigem Job. Dagegen wurden nie enden wollende Gefühlsschübe von Stewart in Richtung Pattinson und dessen Verlobter, der Sängerin FKA Twigs, insinuiert. So, wie Jennifer Aniston auch heute noch Brad Pitt nachtrauern soll. Stewart und Cargile wurden immer wieder zu «gal pals», «BFFs», besten Freundinnen.
Zur gleichen Zeit in England: Seit sieben Monaten ist Cara Delevingne, das angesagteste Supermodel der Welt, mit St. Vincent, Queen des Indie-Pop, zusammen. Für alle Welt sichtbar. In your face. Auf roten Teppichen, Gala-Events, Modeschauen. Wäre St. Vincent ein Mann, die Presse hätte sich seit vergangenem Dezember nicht mehr eingekriegt über ein so definitionsmächtiges, übercooles Power-Couple. So, wie sie einst Delevingne und den Musiker Harry Styles tagtäglich abfeierte. Aber erst jetzt wagte die «Vogue» mal so richtig nachzufragen und seit vergangenem Freitag ist klar: Die beiden haben eine grosse, starke, stabile Beziehung und fertig.
Der Boulevard liebt es, heterosexuelle Paare tagtäglich durch alle Stationen des Paar-Desaster-Fleischwolfs zu drehen. Clooney und Amal? Verliebt, verheiratet, in Scheidung, doch nicht, oder doch? Beyoncé und Jay Z? Toootal verkracht, Millionen-Scheidung steht bevor, verliebt wie nie, schon wieder schwanger? Die Liebesleben von Miley Cyrus und Taylor Swift? C.H.A.O.S! Und kann man nicht noch irgendwo, irgendwas dazudichten?
Und wie verhält sich der People-Journalismus, der mit seiner Allgegenwärtigkeit durchaus gesellschaftliche Sichtbarkeit und damit eine gewisse Relevanz schafft, zu gleichgeschlechtlichen Promi-Paaren? Zu Ellen DeGeneres und Portia de Rossi? Zu Elton John und David Furnish? Zu Patrick Harris und David Burtka? Zu Ellen Page oder Beth Ditto und ihren Lebensgefährtinnen?
Er verhält sich gar nicht. Er blendet aus. Ausser bei Lindsay Lohan. Ihre gewitterhafte Liebe zu Samantha Ronson war vor ein paar Jahren tägliches Paparazzi-Futter. Aber Lindsay Lohan, diese Ruine eines einstigen Kinderstars, die ausser ihrem puren Dasein keine Karriere mehr hatte, lebt in einer Symbiose mit der Presse. Lindsay Lohan ruft die Journalisten an und sagt ihnen, wann ihr wo was zustossen wird.
Happy Easter from the Burtka-Harris bunnies and one lil' chick! pic.twitter.com/dZS8DZWxqK
— Neil Patrick Harris (@ActuallyNPH) 5. April 2015
Doch sonst will der Boulevard von gleichgeschlechtlichen Paaren am liebsten eins: heile Welten, heile Familien, Harmlosigkeit, Überanpassung. Gerade in Amerika gilt: Nur brave Homos sind gute Homos. Nur wer versucht, exakt das zu re-inszenieren, was der Boulevard den Heteros schon längst abspricht, ist für den Hetero-Mainstream attraktiv. Denn die Märchen der Masse, die sind nun mal einfach heterosexuell. Neil Patrick Harris gibt sich wenigstens noch Mühe, zu den Feiertagen rührselige Familienbilder mit seinen Kindern zu vertwittern.
Cara Delevingne dagegen gilt als «wild child», ebenso wie Kristen Stewart. Also als unabhängig, unkonventionell, ein bisschen fremd. Kristen Stewart wird oft als distanziert und kratzbürstig beschrieben. Das war sie allerdings auch schon früher.
Bloss war Kristen Stewart früher – mit Robert Pattinson – Teil eines riesigen Unternehmens namens «Twilight». Und das private Drama war für das professionelle ein erstklassiger PR-Stunt. Enorm viele Leute dürften da an einer steten medialen Aus- und Abschlachtung der beiden interessiert gewesen sein. Jetzt sind da zwei berufstätige Frauen, von denen die eine gerade in europäischen Arthouse-Filmen reüssiert und die andere ein Nerd ist.
Nun kann man natürlich sagen, dass es nichts Angenehmeres gibt, als vor lauter Desinteresse sedierte Paparazzi. Nur sind sie das nicht. Sie folgen Kristen Stewart und Cara Delevingne weiterhin. Bloss unbeholfener. Und gehorchen damit einer kulturgeschichtlichen Konstanten.
Denn es gibt zwei kulturelle Perspektiven auf Frauenpaare: die pornografische, die eine Lindsay Lohan gern und eifrig bedient, und die utopische. Letztere idealisiert und stilisiert lesbische Liebe bis zur Abwesenheit aller Sinnlichkeit, bis zur absoluten Leere. 1938 schrieb Walter Benjamin: «Die lesbische Liebe trägt die Vergeistigung bis in den weiblichen Schoss vor. Dort pflanzt sie das Lilienbanner der reinen Liebe auf, die keine Familie und keine Schwangerschaft kennt.»
Die Kunst- und Literaturgeschichte, die Philosophie bis zu den französischen Dekonstruktivisten, die Psychoanalyse sind durchdrungen von der Vorstellung einer interesselosen, leidenschaftsfreien, irgendwie sterilen, total friedlichen Liebe zwischen zwei Frauen. Mit dem Leben hat das alles nichts zu tun. Die Lesbe als Leerstelle. Robert Musil träumte sogar davon, dass sich die Welt vor kommenden Kriegen retten liesse, wenn alle Menschen Lesben würden. Und das Grundrauschen all dessen: die Hilflosigkeit der Männer gegenüber einem Phänomen, zu dem ihnen der Zugang fehlt.
Eine Hilflosigkeit, die neben Ignoranz enorm viel Fiktion, Fehlinformation, Respektlosigkeit und fortwährende Tabuisierung gebiert. Und die am Ende von genau dem zeugt, was Dichter, Philosophen und Paparazzi vorgeben, überwunden zu haben: nämlich von uralter, noch immer latent wirksamer Homophobie.