Grosse, braune Augen starren in die Kamera. Es ist eine Mischung aus Verzweiflung, Angst, aber auch leiser Wut, die aus diesem Blick schreit: «Schaut her! Helft mir!» Der 15-jährige Khalil Ahmad hält sein Hemd hoch. An seiner Bauchseite prangt eine lange, helle Narbe.
Für 3500 US-Dollar verkaufte der junge Afghane eine seiner Nieren, um seine Familie zu ernähren. Der dänische Fotograf Mads Nissen fing die Momentaufnahme des Teenagers ein. Die dunklen Augenringe legen sich wie ein Schatten auf das noch kindlich wirkende Gesicht. Düster und schwer wirkt das Foto – wie wohl auch Khalils Leben in Afghanistan.
«Sich ein Organ gegen Geld entnehmen zu lassen, ist in Afghanistan keine frei gewählte Entscheidung, sondern ein Verzweiflungsakt von Familien, die sich im Angesicht grösster humanitärer Not befinden», erklärt Christina Ihle auf watson-Anfrage. Sie leitet den «Afghanischen Frauenverein», der sich für Menschen aus dem Land einsetzt. Denn die Not sei gross – vor allem, seit die Taliban die Macht übernommen haben.
20 Jahre lang versuchten die USA einen stabilen Staat in Afghanistan aufzubauen. Im August 2021 zerplatzte der Plan. Die US-amerikanischen und verbündeten Streitkräfte zogen sich zurück. Die Taliban gelangten wieder an die Macht. Und mit ihnen Chaos, Angst und Hunger.
«Wir dürfen nicht vergessen, dass Afghanistan aktuell die grösste humanitäre Katastrophe weltweit erleidet», betont Ihle. 97 Prozent aller Familien wissen nicht, wie sie ihre Kinder ausreichend ernähren können. Das Foto von Khalil präsentiert demnach den traurigen Alltag für viele Menschen in Afghanistan.
Eine Momentaufnahme, die beim diesjährigen Wettbewerb der «World Press Photo»-Organisation einen Preis gewinnt. Auf der Website heisst es, dass der illegale Organhandel in Afghanistan boomt. Gründe seien mangelnde Arbeitsplätze und die drohende Hungersnot. Vor allem die westafghanische Provinz Herat sei betroffen.
Besonders in der Winterzeit floriert laut Ihle der Organhandel in Afghanistan. Dann, wenn andere Überlebensstrategien nicht mehr greifen – etwa wie die Tagelohnarbeit auf den Feldern anderer, auf Müllhalden oder Märkten. Doch es trifft nicht nur junge Menschen.
«Unseren Gesprächen nach sind es vor allem Väter, die sich in tiefster Not eine Niere herausnehmen lassen, um die Familie am Leben zu erhalten», erklärt Ihle. Laut ihr geschieht das unter höchst gefährlichen hygienischen Bedingungen und im Verborgenen. «Viele bezahlen den Vorgang mit lebensbedrohlichen Infektionen», sagt sie.
Wer genau hinter dem Handel steckt, sei schwer zu sagen. Ihle zufolge handelt es sich dabei um internationale mafiöse Strukturen. «Das heisst, die Organe werden sofort aus Afghanistan geschafft und international weiterverkauft», führt sie aus.
Menschen geben buchstäblich ihre letzte Niere, um zu überleben. Aber das ist laut Ihle nicht die einzige «lebensgefährliche und traumatisierende» Überlebensstrategie der Familien.
«Unter den Kindern droht Mädchen die Gefahr, aus akuter Not der Familie frühverheiratet zu werden», sagt Ihle. Der Brautpreis ernähre die Geschwister. Jungen würden oftmals gegen Geld als Arbeitskräfte oder Kämpfer an radikale Gruppierungen verkauft.
In Schätzungen für 2022 geht man davon aus, dass 95 Prozent der Menschen in Afghanistan nicht genug zu essen haben. Laut »World Press Photo" wurde mit der Machtergreifung der Taliban die gesamte internationale Hilfe eingestellt. Auch die Vermögenswerte in Höhe von sieben bis neun Milliarden Dollar des afghanischen Staats wurden eingefroren. Nicht ohne Folgen: Die ohnehin schwache afghanische Wirtschaft kollabierte.
Laut der Nichtregierungsorganisation »The Exodus Road« sind vor allem Menschen in grosser finanzieller Not ein »leichtes Ziel« für Organhändler:innen. Wie etwa eine Mutter von fünf Kindern und ohne Mann. Sie sei ohne ein »Oberhaupt der Familie", wie sie es selbst in einem Video auf Instagram sagt. Frauen haben unter den Taliban so gut wie keine Rechte, alleinstehende Mütter haben es daher besonders schwer. So sind etwa die Berufsmöglichkeiten für Frauen seit der Machtübernahme der Taliban erheblich eingeschränkt.
Dazu kommt: Die Opfer besitzen oft keine gute Bildung und vertrauen gutgläubig den Lügen, «dass die Nieren nachwachsen, dass sie drei Nieren haben oder dass sie nach der Operation medizinisch versorgt werden», erklärt «The Exodus Road».
Laut der Organisation werden Organe für einen Preis zwischen 500 und 10'000 Dollar gehandelt – in einigen Fällen erhalten die Betroffenen gar kein Geld. Im Gegenteil – sie werden gezwungen, Papiere zu unterschreiben, in denen sie ihr Einverständnis geben.
Beliebt auf dem «Organmarkt» seien vor allem Nieren, gefolgt von Lebern und Hornhäuten. Aber auch Haut, Blutplasma, menschliche Eizellen und Embryonen florieren zunehmend. Dennoch gibt es laut Ihle auch Hoffnung.
«Organhandel, Kinderheirat, Kinderrekrutierungen und andere schädliche Überlebensstrategien gehen schlagartig zurück, wenn sich die allgemeine humanitäre Lage der Familien vor Ort verbessert», sagt die Afghanistan-Expertin.
Sie führt aus:
Für den jungen Afghanen Khali kommt diese Hilfe zu spät. Er hat bereits eine Niere verloren und damit auch die Chance auf ein komplett gesundes Leben. Er leidet an chronischen Schmerzen und hat keine Kraft mehr zum Fussballspielen, schreibt «World Press Photo».
Der dänische Fotograf Nissen will mit diesem Foto nicht nur das Bewusstsein für das Leid von Millionen Afghan:innen schärfen, die dringend Nahrungsmittel und humanitäre Hilfe benötigen – vor allem möchte er, dass man sich für sie endlich einsetzt.
Der erste Punkt könnte die Macht der Taliban stärken. Diktator kann jeder sein, wenn das Ausland für das Sozialsystem zahlt. Ebenso wünschten sich viele Einheimische den Abzug des Westens, diese Menschen werden so ebenfalls bestätigt. Zweiteres, also langfristige Hilfe, wird dann wieder als westlicher Kolonialismus ausgelegt... Was machen wir?