Schweiz
Interview

Kokain in der Schweiz immer stärker und günstiger: Interview

«Kokain ist in der Schweiz heute deutlich stärker und günstiger als je zuvor»

Seit dem Ende der Corona-Pandemie scheint die Drogenszene in der Westschweiz zu wachsen. Was ist da los? Wir haben mit einem Experten gesprochen.
10.08.2025, 19:1010.08.2025, 19:10
Alexandre Cudré
Alexandre Cudré

In den letzten Jahren sind im Sommer jeweils vermehrt Drogensüchtige in den Strassen und auf den Plätzen der Westschweiz unterwegs. In Lausanne haben die Bauarbeiten rund um die Place de la Riponne sie an andere Orte in der Stadt verdrängt. Sichtbar bleiben sie trotzdem – wie ein User-Foto zeigt.

Drogensüchtiger in Lausanne
Nur wenige hundert Meter von der Place Chauderon in Lausanne entfernt.Bild: zvg

Auch Genf und Yverdon-les-Bains stehen dem in nichts nach. Ist die Schweiz zu einer offenen Drogenszene geworden? Und warum scheint sich die Lage nicht zu bessern? Darüber sprechen wir mit Frank Zobel, dem stellvertretenden Direktor von Sucht Schweiz.

Frank Zobel, Sucht Schweiz
Frank Zobel.Bild: Sucht Schweiz

Süchtige konsumieren mitten auf der Strasse ihre Drogen. Was ist gerade in der Westschweiz los?
Dieses Phänomen nimmt jedes Jahr ab Mai zu: Die Konsumenten sind dann sichtbarer. Wegen der warmen Temperaturen gehen sie vermehrt nach draussen und sind im Sommer auch mobiler. Die Situation unterscheidet sich jedoch von Stadt zu Stadt.

«In Genf, Lausanne und Yverdon sind Strassenhandel und Konsum im öffentlichen Raum klar sichtbar.»

In Vevey tummeln sich rund um den Bahnhof besonders viele Dealer, der Konsum findet dort jedoch eher im Privaten statt. Auch der Rest der Schweiz bleibt nicht verschont – ob in Zürich, Basel, Luzern oder St.Gallen. Betroffen sind aber auch kleinere Städte wie Chur oder Brugg. Das zeigt: Das Phänomen breitet sich aus. Diese Entwicklung hält nun schon seit einigen Jahren an, ist aber seit dem Sommer 2023 besonders sichtbar.

«Einer der Gründe dafür ist die sehr hohe Verfügbarkeit von Kokain.»

Ist es so schlimm?
Ja. Um dieses Phänomen besser zu verstehen, muss man einen Blick zurück wagen. In weniger als zehn Jahren ist die Kokainproduktion in Südamerika massiv angestiegen.

«Schätzungen zufolge hat sich die jährliche Produktionsmenge in diesem Zeitraum verdreifacht – auf 3000 Tonnen.»

In Europa wurde das anhand der Beschlagnahmungen in den Häfen deutlich – dorthin wird das Kokain heimlich in Containern des regulären Warenverkehrs geschmuggelt. 2023 wurden in Europa, vor allem in den Häfen von Antwerpen und Rotterdam, über 400 Tonnen Kokain sichergestellt – gegenüber rund 80 Tonnen im Jahr 2016.

Was bedeutet das für die Konsumenten in der Schweiz und in Europa?
Eine komplette Umwälzung des Marktes. Die grossen Kokainvorräte haben zu einem Preisrückgang geführt – und das Pulver wird immer weniger gestreckt. Dahinter steckt ein harter Konkurrenzkampf um den Verkauf. Heute liegt die Reinheit des Kokains im Schnitt bei rund 70 bis 80 Prozent. Vor weniger als zehn Jahren war es noch etwa halb so viel. Auch der Preis pro Dosis hat sich halbiert – von rund 20 auf etwa 10 Franken.

«Kokain ist heute also deutlich stärker und günstiger als je zuvor.»

Dieses Phänomen lässt sich auch in vielen anderen europäischen Ländern beobachten. Zahl und Art der Verkaufsstellen haben stark zugenommen: Kokain kann man nicht nur auf der Strasse kaufen, sondern auch über soziale Netzwerke oder im Darknet bestellen.

Macht Ihnen das Sorgen?
Ja. Die enorme Verfügbarkeit von Kokain ist eine tiefgreifende, historische Veränderung – und sie erklärt, warum manche Menschen die Kontrolle über ihren Drogenkonsum verloren haben. Kokain wirkt nur relativ kurz, und manche nehmen es mehr als zehnmal pro Tag. Sie sind völlig erschöpft, weil sie weder schlafen noch essen.

«Die Lage ist aus Sicht der öffentlichen Gesundheit sehr besorgniserregend.»

Kommt das überraschend?
Nein. Wir – und dazu gehören auch Sie in den Medien – haben das Ausmass der Situation im Sommer 2023 erkannt, als man begann, über den Konsum von Crack (rauchbares Kokain) zu sprechen, die Zwischenfälle im öffentlichen Raum zunahmen und Hospitalisierungen sowie Therapieanfragen stark anstiegen. Das war der Moment, in dem sich die Puzzleteile zusammenfügten.

«Aber die Situation hat schon seit mehreren Jahren unter der Oberfläche gebrodelt.»

Grosse Mengen kamen schon damals aus Südamerika. Während sich dieser Markt veränderte, galt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vor allem der Corona-Pandemie. Und was den Konsum betrifft: Er ist in dieser Zeit nicht zurückgegangen – obwohl die Grenzen geschlossen und Freizeiteinrichtungen dicht waren. Das zeigt, dass Kokain trotzdem im Umlauf war und es bereits Vorräte gab.

«Nach der Pandemie wurde die Verschlechterung der Lage immer offensichtlicher.»

Dazu kommen eine zunehmende wirtschaftliche Unsicherheit, wachsende Probleme mit der psychischen Gesundheit und eine schwierige Migrationssituation in Europa – und der Cocktail war angerichtet.

Welche Rolle spielt die Migration in diesem Zusammenhang?
Migrantische Bevölkerungsgruppen sind sowohl beim Konsum als auch beim Dealen gefährdet. Manche Migranten gehören zu marginalisierten Gruppen und sind gefährdet, selbst zu konsumieren: Sie haben keine Arbeit und ziehen ziellos durch Europa – einen Tag in der Schweiz, den nächsten in Deutschland, in den Niederlanden usw. So können sie sehr schnell mit Drogen in Kontakt kommen.

«Andere Migranten sind bereit, in den Drogenhandel einzusteigen, um ein Einkommen zu erzielen.»

Wer von der Polizei festgenommen wird, wird oft sehr schnell ersetzt. Manche fliehen in ein Nachbarland, und jene mit einer Schengen-Aufenthaltsbewilligung können nicht ohne Weiteres ausgewiesen werden. Ausserdem sind die Gefängnisse in vielen Westschweizer Kantonen voll.

Was kann man gegen dieses Problem tun?
Razzien gibt es natürlich, aber die Dealer verfügen offenbar über so grosse Vorräte, dass sie solche Verluste wegstecken können. Die Globalisierung von oben – also der internationale Warenhandel – und von unten – die wirtschaftliche Migration von Menschen aus Afrika, Lateinamerika und Asien – sind zwei Haupttreiber dieses Handels. In der Schweiz versucht jede Stadt, ihre eigene Lösung zu finden.

«Man muss manchmal kreativ werden.»

Genf zum Beispiel schickt inzwischen medizinische Teams auf die Strasse, weil manche Konsument:innen nicht in der Lage sind, die bestehenden Angebote zu nutzen. Andere Städte bieten «niederschwellige» Unterkünfte an – leicht zugänglich, günstig und mit wenigen Auflagen –, um den Konsum im öffentlichen Raum zu verringern.

Wie soll man Drogensüchtige behandeln?
Das Schwierige an Kokain und Crack ist, dass es dafür kein Ersatzmittel gibt – so wie Methadon bei Opiaten.

«Die bestehenden Behandlungen gegen Kokainsucht erzielen keine besonders guten Ergebnisse.»

In der Schweiz haben wir aus den Erfahrungen am Platzspitz in Zürich in den 1990er-Jahren gelernt. Damals lautete die politische Linie: «Die Leute müssen abstinent sein. Punkt.» In der Praxis funktionierte das aber nicht – und viele Menschen starben. Daraufhin haben wir die Vier-Säulen-Politik entwickelt: Prävention, Schadensminderung, Therapie und Repression. Sie ist pragmatisch, lokal und konkret. Zwischen den Beteiligten kommt es zwar gelegentlich zu Spannungen, doch diese Strategie ist nach wie vor die richtige.

Welche politischen Lösungen gibt es?
Das ist kompliziert. Manche Politiker wirken, als wüssten sie nicht mehr weiter – aber eine Zauberformel hat niemand. Selbst Städte wie Zürich, die in diesem Bereich über viel Erfahrung und Ressourcen verfügen, geraten mitunter an ihre Grenzen, wenn sich die Lage verändert. Auf der anderen Seite gibt es Politiker, die eine harte Haltung gegen Drogen einnehmen.

«Doch das ist vor allem politische Kommunikation – und oft haben sie nichts Konkretes anzubieten.»

Wäre es in einer solchen Situation nicht sinnvoll, hart durchzugreifen?
Wenn es helfen würde, Dealer in gezielten Razzien festzunehmen und den Leuten zu sagen, sie sollen einfach mit den Drogen aufhören, wüssten wir das längst. Was man auf keinen Fall tun sollte, sieht man zum Beispiel in Frankreich, wo die Verschlechterung der Lage deutlich ist. Dort vertreten Politiker eine sehr dogmatische Haltung à la «kein Kompromiss mit Drogen» – und trotzdem ist die Situation problematisch. In Frankreich gibt es nur zwei Konsumräume, in der Schweiz dagegen rund ein Dutzend. Dabei geht es nicht einfach darum, «den Leuten das Konsumieren zu erlauben», sondern auch darum, sie zu betreuen und die Lage im Blick zu behalten.

«Der polizeiliche und repressive Aspekt ist einer der vier Pfeiler und bleibt wichtig – aber er kann nicht die gesamte Strategie ausmachen.»

Und was ist mit Fentanyl – der Droge, die in den USA verheerend wirkt und in Europa Angst auslöst?
Bislang gibt es keine Hinweise auf organisierte, aktive Vertriebsnetzwerke für Fentanyl oder andere synthetische Opioide in der Schweiz. Ich warte nun seit fast zehn Jahren darauf, dass diese Drogen hier auftauchen – und bisher ist so gut wie nichts passiert. Es gibt zwar vereinzelte Fälle, die in den kommenden Jahren zunehmen könnten. Ab und zu kommt es zu kleinen Spitzen bei schweren, isolierten Hospitalisierungen, die zeitlich und örtlich begrenzt sind. Dabei handelt es sich eher um Personen, die im Darknet bestellen. Das könnte sich ändern – muss aber nicht.

Haben die Dealer kein Interesse an diesen Drogen?
Aus Sicht des «Geschäftsmodells» ist das wahrscheinlich eine schlechte Wahl.

«Wenn Ihr Kunde tot ist, bringt er kein Geld mehr ein.»

Ausserdem würde man sofort die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich ziehen. In den USA ist die katastrophale Lage das Resultat einer sehr liberalen Politik: Die Pharmaindustrie begann, Opioide legal zu verkaufen und dafür zu werben – was Millionen von Amerikanern abhängig machte. Danach übernahmen die mexikanischen Kartelle, zunächst mit Heroin, später mit synthetischen Opioiden wie Fentanyl, die sich deutlich einfacher herstellen lassen. In Europa hatten wir weder diesen ersten Schritt noch die weiteren.

Also kein Fentanyl bei uns?
Zum Glück – denn es tötet. Die Droge Nummer eins in der Schweiz ist im Moment Kokain.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Drogen-Funde aus aller Welt
1 / 16
Drogen-Funde aus aller Welt
Bei einem Einsatz im Nordwesten Kolumbiens haben Sicherheitskräfte über acht Tonnen Kokain beschlagnahmt. Das Rauschgift sei in einem unterirdischen Versteck auf einer Bananenplantage im Departement Antioquia entdeckt worden.
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Ich habe eine halbe Million Franken für Drogen ausgegeben»
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Du hast uns was zu sagen?
Hast du einen relevanten Input oder hast du einen Fehler entdeckt? Du kannst uns dein Anliegen gerne via Formular übermitteln.
78 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Jacob Crossfield
10.08.2025 20:16registriert Dezember 2014
Das einzige was beim Thema Drogen hilft, ist kontrollierte Abgabe und niederschwellige Sozialarbeit. Alles andere wie z.B. aggressive Prohibition ist krachend gescheitert. Auch Süchtige möchten nicht primär sterben, deshalb ist Fentanyl kein Thema bei uns. Geben wir ihnen humane Alternativen.
11714
Melden
Zum Kommentar
avatar
Unsinkbar 2
10.08.2025 22:31registriert August 2019
Wie steht es eigentlich mit Kokain in Portugal, wo alles legalisiert wurde?
271
Melden
Zum Kommentar
avatar
Unsinkbar 2
10.08.2025 22:40registriert August 2019
Drogen und Medikamente durchdringen die ganze Gesellschaft. Beim Ultratrail sind viele Schmerztabletten in den Abfallkübeln im Startbereich, bei den Familienfesten und Weihnachtsessen gibt man sich die Kante mit Alkohol, im Altersheim wird man mit starken Medikamenten still gehalten. Sozialarbeit, Früherkennung vonpsychischen leiden, Eingreifen bei Gewalt gegen Kinder (spätere Kunden), alternativbehandlungen falls vorhanden (Metadon) sind wohl die zielführendsten Lösungen.
282
Melden
Zum Kommentar
78
«Die vielen Krisen haben uns ärmer gemacht» – warum wir uns weniger leisten können
Kaufkraftverluste machen den Menschen in der Schweiz zu schaffen, zeigt eine watson-Umfrage. Eine Ökonomin erklärt, warum das so ist, wo es politische Massnahmen braucht und worauf sich Beschäftigte in der Schweiz trotz allem freuen können.
Die repräsentative Umfrage von watson und Demoscope zeigt: Über die Hälfte der Schweizer Bevölkerung sagt, dass ihre Kaufkraft in den vergangenen fünf Jahren abgenommen hat, für 31 Prozent ist sie sogar stark zurückgegangen. Überrascht Sie das?
Sarah Lein: Nein. Wir hatten in den vergangenen fünf Jahren eine klar messbare Inflation. Die Konsumentenpreise sind seit Oktober 2020 etwa um sieben Prozent angestiegen, die Krankenkassenprämien im selben Zeitraum sogar um 20 Prozent. Zwar haben auch die Löhne leicht zugenommen, um circa fünf Prozent, aber weniger stark als die Teuerung.
Zur Story