In Ernest Hemingways Roman «The Sun Also Rises» wird ein einst reicher Mann gefragt, wie er pleite ging. «Zuerst in kleinen Schritten», antwortete er. «Dann ganz schnell.»
Übertragen auf die aktuelle Situation in Russland kann man sagen: Wladimir Putin hat die Phase der kleinen Schritte erreicht. Mit seiner Teilmobilmachung – die de facto eine Generalmobilmachung ist – hat er den Charakter des Krieges gegen die Ukraine im eigenen Land vollständig verändert. Aus einem Konflikt, den die russische Bevölkerung bisher als eine «militärische Spezialoperation» am Bildschirm verfolgte, ist ein Krieg geworden, in den nun ihre Söhne oder Väter verwickelt werden können. Das hat die Stimmung im Land massiv verändert.
Bisher ist der russische Präsident als ein moderner Sonnenkönig dargestellt worden. Er habe alle Fäden in der Hand, sei politisch unangreifbar und von einer Leibgarde von Geheimdienstmännern, den sogenannten Silowiki, gegen allfällige Putsch-Gelüste geschützt.
Nun aber erhält dieses Putin-der-Allmächtige-Bild erste Risse. Die vermeintlich unbesiegbare russische Armee hat sich als desolater Haufen erwiesen und Putin als unfähiger Feldherr. Zudem ist die russische Regierung keineswegs der Monolith, wie sie oft dargestellt wird. Auch im Kreml toben Machtkämpfe, auch wenn sie für Aussenstehende kaum zu entschlüsseln sind.
Grundsätzlich kann man zwei Lager unterscheiden: die Liberalen und die Kriegspartei. Die Liberalen fürchten sich zu recht vor den wirtschaftlichen Folgen des Krieges und dem neuen Paria-Status Russlands. Bei den Kriegshetzern handelt es sich um einen bunten Haufen von Nationalisten wie Gennadij Sjuganow, dem Chef der Kommunistischen Partei, oder Ramsan Kadyrow, dem blutrünstigen Anführer der Tschetschenen und Jewgeni Prigoschin, dem Chef der Söldnertruppe Wagner.
Mit seiner Teilmobilmachung hat Putin Zugeständnisse an die Kriegshetzer gemacht. Gleichzeitig hat er damit jedoch die Bevölkerung verunsichert, hauptsächlich in den Städten. Obwohl drakonische Strafen drohen, mehren sich daher die Demonstrationen.
«Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll zu fragen, wie lange Putin an der Macht bleiben und seinen barbarischen Krieg fortsetzen kann», stellt Sergey Radchenko in «Foreign Affairs» fest. «Eine Handvoll von städtischen Abgeordneten hat es bereits gewagt, Putins Rücktritt zu fordern und sie haben damit ausgedrückt, was sich viele innerhalb der russischen Elite im privaten Kreis überlegen. Sicherlich, so scheint es, wird jemand in den verwinkelten Hallen des Kremls bald beschliessen, dass er gehen muss.» Radchenko ist Professor an der John Hopkins University.
Russland hat keine Tradition von Staatsstreichen. In der Geschichte der Sowjetunion hat es jedoch mehrere Palastrevolutionen gegeben. Nach dem Tod von Josef Stalin galt Lawrenty Beria als sein natürlicher Nachfolger. Er war Stalins Innenminister und Bluthund und wurde von allen gefürchtet, weil er über sämtliche Geheimnisse informiert war. Trotzdem gelang es Nikita Chruschtschow überraschenderweise, Beria auszutricksen und den Innenminister vor ein Gericht zu stellen, das ihn schliesslich zum Tode verurteilte. Chruschtschow selbst wurde später ebenfalls Opfer einer Palastrevolution. Diese wurde von seinem einstigen Kumpel Leonid Breschnew angeführt.
Wer aber könnte nach einer allfälligen Palastrevolution im Kreml Putin beerben? Gemäss Radchenko dürfte es kaum Sergei Schoigu sein, zu sehr ist der Innenminister für das militärische Desaster mitverantwortlich. Der Chef des Geheimdienstes Nikolai Patruschew ist zu alt, Dmitry Medwedew, der ehemalige Pseudo-Präsident wird nicht ernst genommen. Als weitere Kandidaten nennt Radchenko Wjatscheslaw Wolodin, den Vorsitzenden der Duma, oder Premierminister Michail Mischustin und dessen Vorgänger Sergei Kirijenko.
Würde eine solche Palastrevolution einen radikalen Kurswechsel bedeuten? Obwohl alle erwähnten Kandidaten Putins Gräueltaten mitverantworten, könnte dies tatsächlich der Fall sein. «Ein allfälliger Nachfolger Putins muss nicht zwingend dessen neo-imperialistische Agenda übernehmen», stellt Radchenko fest. «Sollte Putin tatsächlich gestürzt werden, dann wird ihm sein Nachfolger das Ukraine-Desaster in die Schuhe schieben und einen vollständigen Neuanfang versuchen.»
Nicht nur das Versagen seiner Generäle hat Putin in eine missliche Lage gebracht. Auch sein aussenpolitisches Kalkül ist nicht aufgegangen. Der Westen ist nicht eingeknickt, sondern ist bisher erstaunlich solidarisch geblieben und wird es wohl auch im Winter bleiben. Indien geht mittlerweile offen auf Distanz zu Russland, und China deutet zumindest einen gewissen Unmut an.
Auch wirtschaftlich geht Putins Rechnung nicht auf. Putin hat die Preissetzungsmacht verloren. Obwohl der russische Präsident auch die Gaslieferungen über Nordstream 1 eingestellt hat, ist der Gaspreis gesunken. Gleichzeitig wird die russische Wirtschaft wegen der Sanktionen immer stärker geschwächt.
Die kleinen Schritte, die zu Putins Sturz führen könnten, sind unübersehbar. Das heisst nicht, dass der plötzliche Absturz zwangsläufig folgen wird. Doch wie Liana Fix und Michael Kimmage ebenfalls in «Foreign Affairs» festhalten, ist die Ukraine auf jeden Fall zu einem Bumerang für den russischen Präsidenten geworden: «Mit der Invasion wollte Putin Selenskyjs Ukraine in den Abgrund stossen. Vielleicht hat er dies mit seinem eigenen Regime getan.»
Aber nur schon, dass wir über die Nachfolge von Putin sprechen, stimmt mich irgendwie zuversichtlich. Mal schauen...