Vor grossen militärischen Ereignissen brodelt gewöhnlich die Gerüchteküche – vor allem in den sozialen Medien. Agenturen und Blogger beziehen sich derzeit auf eine Einschätzung des amerikanischen Institute for the Study of War (ISW), das Vorstösse der ukrainischen Armee auf das russisch besetzte Ostufer des Dnjepr im Süden des Landes meldet.
Zur Einordnung: Im November zogen sich die russischen Invasoren aus der Hafenstadt Cherson am westlichen Ufer des Dnjepr zurück und sprengten die verbleibenden Brücken über den grossen Fluss. Vom Ostufer aus beschossen sie danach Cherson. Die russische Präsenz in der Region ist den Ukrainern also ein Dorn im Auge.
Seit rund fünf Monaten unternimmt Kiews Armee deshalb immer wieder kleinere Vorstösse auf das Ostufer. Manchmal sind es Aufklärungsoperationen oder Nadelstiche, manchmal geht es darum, Partisanen, die hinter der Front kämpfen, mit Nachschub zu versorgen. Solche Flussüberquerungen sind also nichts Neues, und manchmal enden sie im Desaster, zum Beispiel wenn die russische Armee gerade zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist oder die ukrainischen Angreifer präzise vom russischen Artilleriefeuer erfasst werden.
Tatsächlich hat es in den letzten Wochen immer wieder Meldungen gegeben, dass die Russen ihre zivile Verwaltung vom östlichen Ufer des grossen Flusses zurückziehen und prorussische Kollaborateure auf der Halbinsel Krim in Sicherheit bringen. Es ist also durchaus denkbar, dass die Ukrainer den Druck auf die strategisch wichtige Landbrücke zur Krim verstärkt haben.
Die Einschätzung des ISW basiert aber in erster Linie auf Berichten russischer Telegram-Kanäle. Dort wird unter anderem behauptet, dass die Ukrainer auf Inseln der Dnjepr-Mündung Basen aufgebaut hätten und diese regelmässig mit Nachschub versorgten. Der Telegram-Kanal der Wagner-Söldnergruppe hat sogar eine Karte veröffentlicht, auf der acht Punkte markiert sind, wo die Ukrainer angeblich die Wasserstrasse überquert hätten.
Der Kanal gibt auch zu bedenken, dass die Vorstösse ein Ablenkungsmanöver sein könnten und dass der Hauptstoss der Ukrainer wahrscheinlich viel weiter östlich stattfinden werde. Wagner meint damit einen Gegenangriff der Ukrainer, der den Landkorridor von Russland zur Krim entlang des Asowschen Meers durchtrennen würde. Dieser Landkorridor liegt bereits östlich des Dnjepr, eine grosse Flussüberquerung wäre dort also nicht notwendig. Das wäre die logischste Variante, gäbe es da nicht ganze Riegel von schweren Befestigungen, welche die Russen dort in den vergangenen Monaten errichten liessen.
Doch wechseln wir nochmals zur Region Cherson weiter westlich: Könnte der ukrainische Generalstab frei wählen, würde er bestimmt liebend gerne einen Brückenkopf auf dem Ostufer des Dnjepr errichten. Gelänge dies und könnten die Ukrainer die Russen dann auch genügend weit zurückdrängen, dass die gesprengten Übergänge über den Fluss sich wieder behelfsmässig instand setzen liessen, dann wäre für die Ukraine sehr viel gewonnen. Die verbleibenden russischen Kräfte zwischen diesem Brückenkopf und der Landbrücke am Asowschen Meer liefen in diesem Szenario Gefahr, eingekesselt zu werden. Das wäre ein grosser Zwischenerfolg der Ukrainer auf dem Weg zur Wiederherstellung ihrer Souveränität über die Krim.
Die angedachte grosse Flussüberquerung hat aber sehr viele Wenn und Aber. Landungsoperationen sind erstens extrem riskant, und zweitens ist es am Ostufer des Dnjepr recht sumpfig, nicht zuletzt, weil es in den vergangenen Wochen viel geregnet hat. Das Gelände eignet sich also nicht für Panzerangriffe, solange der Schlamm nicht getrocknet ist und die Brücken über den grossen Fluss unbenutzbar bleiben. Ausserdem gibt es dort nur relativ wenige Strassen.
Momentan gibt es also kaum Anzeichen, dass es sich bei diesen doch recht kleinen Vorstössen um den Beginn der ukrainischen Grossoffensive handelt. Vielleicht geht es nur darum, das Terrain zu erkunden und allenfalls die Russen zu verleiten, Kräfte von weiter östlich – von den wichtigen Verkehrsknotenpunkten Melitopol und Tokmak – wegzulocken. Damit hätten die Gerüchte in den sozialen Medien ihren mutmasslichen Zweck erreicht.
Die Ukrainer, werden ihre Mittel an Material und Soldaten hoffentlich effektiver einsetzen als die Russen und hoffentlich viel von ihrem Staatsgebiet zurückerobern und die Russen zum Rückzug zwingen.
Der Aggressor gehört zurück, wo er herkam.