«Sollte Putin Erfolg haben bei seinem Versuch, die Unabhängigkeit und die Demokratie in der Ukraine zu untergraben, dann wird die Welt zu einem aggressiven und intoleranten Nationalismus, der an das frühe 20. Jahrhundert erinnert, zurückkehren», warnt Francis Fukuyama im Magazin «Foreign Affairs».
«Der Liberalismus wurde beschädigt durch die Finanzkrise, die Klimakrise, die durchzogene Reaktion auf die Pandemie, rechten Populismus und den Aufstieg von China. Er scheint erschöpft, niedergeschlagen und bestimmt durch Widersprüche und nicht eingehaltene Versprechen», stellt derweil Ezra Klein in der «New York Times» fest.
Putins Krieg ist mehr als ein scheusslicher Überfall auf eine souveräne Nation. Der Ausgang dieses Krieges wird die Zukunft der Menschheit entscheidend beeinflussen. Es geht nicht nur um das Schicksal der Menschen in der Ukraine, obwohl diese nicht nur unsere Bewunderung, sondern auch unsere Unterstützung verdienen. Es geht auch darum, ob sich der Liberalismus behaupten kann, oder ob sich eine neue Form eines Totalitarismus durchsetzen wird.
Der Liberalismus ist ein Kind der Aufklärung. Dem Philosophen Immanuel Kant schwebte schon im 18. Jahrhundert eine Zukunft vor, in der souveräne Nationen friedfertig nebeneinander existieren und ihre Konflikte ohne Krieg bereinigen. Die Menschen in diesen Nationen konnten sich darauf verlassen, dass ihre individuelle Freiheit geschützt war. Grundlage dafür war der Rechtsstaat, die Demokratie und die Marktwirtschaft.
In den letzten Jahrzehnten ist dieses Ideal vielerorts zu einem schlechten Witz verkommen. Die Reichtumsunterschiede haben teil groteske Ausmasse angenommen, sowohl innerhalb als auch zwischen den einzelnen Nationen. Die Demokratie ist zu einer Schlammschlacht verkommen und unfähig geworden, Probleme zu lösen. Der Rechtsstaat wird durch Korruption, die freie Marktwirtschaft durch Oligopole untergraben.
Die Reagan/Thatcher-Revolution machte aus dem klassischen Liberalismus einen entfesselten Neoliberalismus. Das bekam den Menschen nicht gut. Der von der Marktwirtschaft geschaffene Wohlstand wird nicht nur ungleich verteilt, er hat auch zu einem Konsumverhalten geführt, das, wenn überhaupt, nur kurzfristig Befriedigung schafft und gleichzeitig zur ökologischen Zerstörung des Planeten führt.
Im Zuge des Neoliberalismus wurde die Einsamkeit zum grössten sozialen Problem der westlichen Gesellschaften. In den Städten bilden Singles bereits die Mehrheit, der Gemeinschaftssinn ist weitgehend zum Lippenbekenntnis verkommen. «Die Kritik der Konservativen am Liberalismus – die Tatsache, dass liberale Gesellschaften keine starke moralische Basis für eine Gemeinschaft zustande bringen – ist leider mehr als stichhaltig», stellt Fukuyama fest.
Die Natur mag bekanntlich kein Vakuum. In das durch die Sinnkrise des Liberalismus geschaffene Vakuum dringen daher die Zombies der Vergangenheit wieder ein. Verschwörungstheoretiker und Schwurbler schaffen Pseudo-Gemeinschaften. Rechtspopulisten holen eine überwundene Idee des Nationalstaates wieder aus der Mottenkiste.
Liberale stehen dem Nationalismus misstrauisch gegenüber. Sie haben dafür gute Gründe: Im letzten Jahrhundert hat ein zu einem Chauvinismus entarteter Nationalismus zu zwei Weltkriegen mit unendlichem Leid geführt. Dummerweise ist es dem Liberalismus jedoch nicht gelungen, eine Alternative zu der Idee der Nation zu schaffen.
Es wird auch künftig nicht gelingen. Eine Welt ohne Grenzen mag Stoff für einen Kult-Song wie John Lennons «Imagine» bilden. Der Ökonom Dani Rodrik hat jedoch schon vor Jahren nachgewiesen, dass es in der Praxis ein Wunschtraum bleiben wird. Denn in einer Krise ist der Nationalstaat der Retter in letzter Instanz, nicht die UNO. Und das Gewaltmonopol wird ebenfalls immer noch und noch lange von nationalstaatlichen Polizei- und Armeekorps und nicht von globalen NGOs ausgeübt.
Mit dem Ethno-Nationalismus glauben Rechtspopulisten eine Antwort auf die durch den Neoliberalismus geschaffene Sinnkrise gefunden zu haben. Fukuyama fasst deren Ideologie wie folgt zusammen:
Der Ethno-Nationalismus ist jedoch letztlich nichts anderes als eine Variante des guten alten Faschismus, selbst wenn er mit Religion angereichert wird. Um ein Abgleiten in eine neue Barbarei zu verhindern, müssen die neoliberalen Auswüchse der letzten Jahrzehnte ausgemerzt und ein liberales Gegenmodell zum Ethno-Nationalismus aufgezeigt werden.
Ein «gesunder» Nationalismus, ein Nationalismus, der nicht in einen Blut-und-Boden-Chauvinismus abgleitet, ist schwierig, aber möglich. «Viele Länder, die einen starken Gemeinschaftssinn aufweisen, setzen sich aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammen», stellt Fukuyama fest.
Dazu gehört etwa die Schweiz. Aber wir mussten jahrhundertelang üben, und haben trotzdem keine Gewissheit, dass dieser gesunde Nationalismus nicht in einen gefährlichen Ethno-Nationalismus kippt. Rechtspopulisten sind auch bei uns auf dem Vormarsch.
Da wir aber - im Gegensatz zu den anderen Demokratien - keine Opposition kennen, sondern alle Parteien gemeinsam einen Kompromiss finden müssen, wird die SVP bei uns zum Glück ausgebremst.