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Analyse

Wie der Liberalismus überleben kann

epa09803810 Protestors take part in a demonstration against the Russian invasion of Ukraine, at the Bundesplatz square in Bern, Switzerland, 05 March 2022. People all over the world hold vigils and de ...
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Analyse

Wie die freie Welt überleben kann

Gräueltaten der Russen in der Ukraine, Sieg des illiberalen Viktor Orban in Ungarn: Die Welt befindet sich an einer Wasserscheide zwischen Liberalismus und Totalitarismus.
04.04.2022, 14:2704.04.2022, 16:41
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«Sollte Putin Erfolg haben bei seinem Versuch, die Unabhängigkeit und die Demokratie in der Ukraine zu untergraben, dann wird die Welt zu einem aggressiven und intoleranten Nationalismus, der an das frühe 20. Jahrhundert erinnert, zurückkehren», warnt Francis Fukuyama im Magazin «Foreign Affairs».

«Der Liberalismus wurde beschädigt durch die Finanzkrise, die Klimakrise, die durchzogene Reaktion auf die Pandemie, rechten Populismus und den Aufstieg von China. Er scheint erschöpft, niedergeschlagen und bestimmt durch Widersprüche und nicht eingehaltene Versprechen», stellt derweil Ezra Klein in der «New York Times» fest.

Putins Krieg ist mehr als ein scheusslicher Überfall auf eine souveräne Nation. Der Ausgang dieses Krieges wird die Zukunft der Menschheit entscheidend beeinflussen. Es geht nicht nur um das Schicksal der Menschen in der Ukraine, obwohl diese nicht nur unsere Bewunderung, sondern auch unsere Unterstützung verdienen. Es geht auch darum, ob sich der Liberalismus behaupten kann, oder ob sich eine neue Form eines Totalitarismus durchsetzen wird.

Der Liberalismus ist ein Kind der Aufklärung. Dem Philosophen Immanuel Kant schwebte schon im 18. Jahrhundert eine Zukunft vor, in der souveräne Nationen friedfertig nebeneinander existieren und ihre Konflikte ohne Krieg bereinigen. Die Menschen in diesen Nationen konnten sich darauf verlassen, dass ihre individuelle Freiheit geschützt war. Grundlage dafür war der Rechtsstaat, die Demokratie und die Marktwirtschaft.

In den letzten Jahrzehnten ist dieses Ideal vielerorts zu einem schlechten Witz verkommen. Die Reichtumsunterschiede haben teil groteske Ausmasse angenommen, sowohl innerhalb als auch zwischen den einzelnen Nationen. Die Demokratie ist zu einer Schlammschlacht verkommen und unfähig geworden, Probleme zu lösen. Der Rechtsstaat wird durch Korruption, die freie Marktwirtschaft durch Oligopole untergraben.

Die Reagan/Thatcher-Revolution machte aus dem klassischen Liberalismus einen entfesselten Neoliberalismus. Das bekam den Menschen nicht gut. Der von der Marktwirtschaft geschaffene Wohlstand wird nicht nur ungleich verteilt, er hat auch zu einem Konsumverhalten geführt, das, wenn überhaupt, nur kurzfristig Befriedigung schafft und gleichzeitig zur ökologischen Zerstörung des Planeten führt.

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Haben die neoliberale Revolution lanciert: Margaret Thatcher und Ronald Reagan.Bild: AP/AP

Im Zuge des Neoliberalismus wurde die Einsamkeit zum grössten sozialen Problem der westlichen Gesellschaften. In den Städten bilden Singles bereits die Mehrheit, der Gemeinschaftssinn ist weitgehend zum Lippenbekenntnis verkommen. «Die Kritik der Konservativen am Liberalismus – die Tatsache, dass liberale Gesellschaften keine starke moralische Basis für eine Gemeinschaft zustande bringen – ist leider mehr als stichhaltig», stellt Fukuyama fest.

Die Natur mag bekanntlich kein Vakuum. In das durch die Sinnkrise des Liberalismus geschaffene Vakuum dringen daher die Zombies der Vergangenheit wieder ein. Verschwörungstheoretiker und Schwurbler schaffen Pseudo-Gemeinschaften. Rechtspopulisten holen eine überwundene Idee des Nationalstaates wieder aus der Mottenkiste.

Liberale stehen dem Nationalismus misstrauisch gegenüber. Sie haben dafür gute Gründe: Im letzten Jahrhundert hat ein zu einem Chauvinismus entarteter Nationalismus zu zwei Weltkriegen mit unendlichem Leid geführt. Dummerweise ist es dem Liberalismus jedoch nicht gelungen, eine Alternative zu der Idee der Nation zu schaffen.

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Glaubte an eine Welt ohne Grenzen: John Lennon.Bild: keystone

Es wird auch künftig nicht gelingen. Eine Welt ohne Grenzen mag Stoff für einen Kult-Song wie John Lennons «Imagine» bilden. Der Ökonom Dani Rodrik hat jedoch schon vor Jahren nachgewiesen, dass es in der Praxis ein Wunschtraum bleiben wird. Denn in einer Krise ist der Nationalstaat der Retter in letzter Instanz, nicht die UNO. Und das Gewaltmonopol wird ebenfalls immer noch und noch lange von nationalstaatlichen Polizei- und Armeekorps und nicht von globalen NGOs ausgeübt.

Mit dem Ethno-Nationalismus glauben Rechtspopulisten eine Antwort auf die durch den Neoliberalismus geschaffene Sinnkrise gefunden zu haben. Fukuyama fasst deren Ideologie wie folgt zusammen:

«Illiberale Führer, ihre Parteien und ihre Verbündeten bedienen sich einer nationalistischen Rhetorik, um die Kontrolle über die Gesellschaft zu erlangen. Sie verunglimpfen ihre Gegner als Eliten, welche den Kontakt zum Volk verloren haben, als verweichlichte Kosmopoliten und Globalisierungsfreaks. Umgekehrt nehmen sie für sich in Anspruch, die wahren Beschützer ihres Landes zu sein. (…) Oft bezeichnen sie ihre Rivalen nicht nur als politischen Gegner, sondern als Feinde des Volkes.»

Der Ethno-Nationalismus ist jedoch letztlich nichts anderes als eine Variante des guten alten Faschismus, selbst wenn er mit Religion angereichert wird. Um ein Abgleiten in eine neue Barbarei zu verhindern, müssen die neoliberalen Auswüchse der letzten Jahrzehnte ausgemerzt und ein liberales Gegenmodell zum Ethno-Nationalismus aufgezeigt werden.

Ein «gesunder» Nationalismus, ein Nationalismus, der nicht in einen Blut-und-Boden-Chauvinismus abgleitet, ist schwierig, aber möglich. «Viele Länder, die einen starken Gemeinschaftssinn aufweisen, setzen sich aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammen», stellt Fukuyama fest.

Dazu gehört etwa die Schweiz. Aber wir mussten jahrhundertelang üben, und haben trotzdem keine Gewissheit, dass dieser gesunde Nationalismus nicht in einen gefährlichen Ethno-Nationalismus kippt. Rechtspopulisten sind auch bei uns auf dem Vormarsch.

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119 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Statler
04.04.2022 16:17registriert März 2014
«Rechtspopulisten sind auch bei uns auf dem Vormarsch.» - Genau mein Humor. Die Rechtspopulisten sind die wählerstärkste Partei in der Schweiz und das schon seit Mitte der 90er.
Da wir aber - im Gegensatz zu den anderen Demokratien - keine Opposition kennen, sondern alle Parteien gemeinsam einen Kompromiss finden müssen, wird die SVP bei uns zum Glück ausgebremst.
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Black Cat in a Sink
04.04.2022 15:11registriert April 2015
Als eine aufgeklärte, säkulare Gesellschaft haben wir die Pflicht, die Demokratie zu schützen und zu stärken und nicht den rechten Populisten das Feld überlassen! Eine Wiederholung der Geschichte wäre fatal!
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giandalf the grey
04.04.2022 16:56registriert August 2015
SOLLTE Putin Erfolg haben. Die Betonung liegt auf dem Konjunktiv. Bis jetzt hat Putin ausschliesslich Misserfolg. Wenn Putin seine Armee nicht bald zurück pfeifft, und danach sieht es nicht aus, wird sie im Ukrainischen Sonnenblumenfelde geschlagen. Die Frage ist doch was dann geschieht. Atompilz über Kyiv und/oder 10 Gramm Blei im Autokratenkopf? Und was geschieht dann mit den Köppels Europas, die diesen Kopf so bewunderten und aus dessen Portemonnaie gefüttert wurden? Fällt die europäische Rechte mit dem Kremel, der sie aufgebaut hat, ist der Nationalismus zumindest in Europa am Ende.
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