Ukrainische Südfront unter Druck – Russlands Taktik geht auf
Verkohlte, von Kugeln durchsiebte Fahrzeuge liegen umgestürzt auf den Strassen, hinter zerstörten Gebäudemauern ragen ramponierte Haushaltsgeräte hervor. In der ukrainischen Stadt Huljajpole im südlichen Gebiet Saporischschja zeugen Trümmer und Ruinen von der Zerstörung nach fast vier Jahren Krieg – und in jüngster Zeit sind die dortigen Kämpfe intensiver denn je.
Am Mittwoch erklärte der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, Olexandr Syrskyj, die Lage bei Huljajpole habe sich erheblich verschlimmert. Auch die Heeresgruppe Süd teilte mit, an den Frontabschnitten Olexandriwka und Huljajpole würden «seit mehreren Tagen intensive Kämpfe toben».
Das südliche operative Kommando der Ukraine berichtete am Mittwoch, dass russische Streitkräfte alle vorhandenen Waffenarten einsetzen, um ukrainische Verteidigungsstellungen zu zerstören und die ukrainischen Truppen zurückzudrängen. Zudem nutzen sie offenbar die schlechten Wetterbedingungen aus, um zwischen den ukrainischen Stellungen vorzudringen – mit Erfolg: Nordöstlich der Kleinstadt Huljajpole zog sich die ukrainische Armee aus Nowouspeniwske und Nowe zurück. Schwer umkämpft seien ausserdem die Orte Jablukowe, Riwnopillja und Solodke.
Der Rückzugsbefehl sei nach der «faktischen Zerstörung aller Unterstände und Befestigungen» nach intensivem Artilleriebeschuss erfolgt, so die Heeresgruppe Süd. Dabei seien etwa 2'000 Geschosse auf ukrainische Stellungen niedergegangen. Den ukrainischen Angaben nach ist damit ein Rückzug um etwa zehn Kilometer erfolgt.
Putins Truppen folgen einem genauen Plan
Klares Ziel der russischen Angriffsbemühungen ist es, die Kleinstadt Huljajpole von Osten her zu erobern, so die Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW). Dabei folgen Putins Truppen einer erprobten Taktik: Sie ermöglichen Vorstösse durch Infiltration. In einem aktuellen Lagebericht erklärt das ISW, wie die russische Armee genau vorgeht.
In einem ersten Schritt schwächen russische Truppen die ukrainische Armee durch langwierige Luftangriffe auf ukrainische Drohnenpiloten und lokale Nachschublinien. So wird die Angriffsfähigkeit geschwächt und Fronttruppen können nicht mehr ausreichend versorgt werden.
Anschliessend identifizieren Russlands Streitkräfte entstandene Schwachstellen und nutzen sie aus. Russische Massenangriffe, auf kleinere Gruppen verteilt, können die ukrainischen Truppen nicht mehr abwehren. So erzielt Russland wiederum schnelle Vorstösse und zwingt die ukrainischen Streitkräfte zum Rückzug. Dem ISW zufolge führen Putins Truppen seit Monaten Luftangriffe auf ukrainische Bodenverbindungen in Richtung Huljajpole durch – also auf Autobahnen, Strassen und Eisenbahnlinien.
In Pokrowsk zeigt die Taktik Wirkung
Dieses Vorgehen gleicht wiederum der Taktik, die russische Streitkräfte seit dem Frühjahr 2025 gegen die rund 100 Kilometer nordöstlich gelegene Stadt Pokrowsk anwenden. Damit bereiteten sie jene Angriffe vor, mit denen sie die weitgehend zerstörte Stadt erobern wollen. Und laut ISW steht Russlands Armee kurz davor, dass ihr das auch gelingt. Eine Einnahme von Pokrowsk entspräche dem grössten militärischen Erfolg russischer Truppen in der Ukraine seit Anfang 2024.
Da Pokrowsk ein wichtiger Knotenpunkt ist, ist ein dortiger Sieg für Russland strategisch bedeutsam, um die gesamte Region Donezk einzunehmen. Die Stadt würde als Ausgangspunkt dienen, um weiter in Richtung Norden auf Kramatorsk und Slowjansk, die beiden grössten verbliebenen ukrainisch kontrollierten Städte in Donezk, vorzustossen. Russische Medien sprechen deshalb auch von Pokrowsk als dem «Tor zu Donezk».
Gravierender Soldatenmangel schwächt die ukrainische Armee
Sowohl in Huljajpole als auch in Pokrowsk dürfte auch der gravierende Soldatenmangel auf ukrainischer Seite die Erfolge von Putins Truppen begünstigen. Im Oktober wurde mit über 20'000 bei der Staatsanwaltschaft registrierten Fällen ein neuer Rekordwert bei Fahnenflucht und unerlaubtem Fernbleiben von der Truppe festgestellt. Die Dunkelziffer soll um einiges höher liegen.
Gleichzeitig tauchen in sozialen Netzwerken täglich neue Aufnahmen von Zwangsrekrutierungen im ukrainischen Hinterland auf. Diese scheitern oft am Widerstand der Betroffenen und der Solidarisierung von zufälligen Passanten.
Die ukrainischen Streitkräfte haben früheren offiziellen Auskünften zufolge gut eine Million Mann unter Waffen. Nur etwas mehr als 200'000 sollen entlang der über 1'200 Kilometer langen Frontlinie im Einsatz sein. Auf russischer Seite sind hingegen nach Angaben aus Moskau und Kiew in der Ukraine zwischen 600'000 und 700'000 Soldaten eingesetzt. Wie viele unmittelbar an der Front kämpfen, ist dabei unbekannt. Der Kreml konnte bisher jedoch auch aufgrund hoher Geldzahlungen eine Generalmobilmachung ähnlich wie beim ukrainischen Kriegsgegner vermeiden.
Verwendete Quellen:
- understandingwar.org: "Russian Offensive Campaign Assessment, November 12, 2025" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
