Wolodymyr Selenskyj hat bei seiner Ansprache ans Europäische Parlament Noten an alle EU-Mitglieder verteilt. Ein Land ist dabei sehr schlecht weggekommen. «Ungarn … Ich will hier eine Pause machen», führte der Präsident der Ukraine aus. «Ein für allemal, ihr müsst euch entscheiden, auf welcher Seite ihr steht.»
Es ist kein Zufall, dass Selenskyj Ungarn als schwarzes Schaf innerhalb der bis anhin erstaunlich solidarischen EU-Herde bezeichnet. Wladimir Putin und Viktor Orban sind Seelenverwandte. Der eine spricht von einer «gelenkten», der andere von einer «illiberalen» Demokratie, und beide meinen das Gleiche: Ein autoritärer Staat, in dem Medien gleich geschaltet sind, die Justiz abhängig von der Politik ist und die Demokratie zu einer Farce wird.
Putin und Orban bedienen sich dabei der gleichen Propaganda: Sie spielen sich als Retter des christlichen Abendlandes auf – oder was sie dafür halten. Sie hetzen gegen Immigranten, Schwule und George Soros. Sie wettern gegen einen vermeintlich dekadenten Westen, errichten Zäune gegen Immigranten und propagierend die These vom «grossen Austausch», der Verschwörungstheorie, wonach bald Muslime die Mehrheit in Europa bilden.
Erstaunlich lange konnte Orban dies mithilfe der gemässigten Konservativen tun. Erst vor gut einem Jahr wurde seine Fidesz-Partei aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei ausgeschlossen. Dieser Fraktion gehören unter anderem die französischen Republikaner, aber auch die deutsche CDU an.
Viktor Orban wurde so zu einem Leithammel der Rechtsextremen. Tucker Carlson, der Starmoderator von Fox News, sendete im vergangenen Sommer eine Woche lang aus Budapest und strahlte unter anderem ein langes unterwürfiges Interview mit dem ungarischen Premierminister aus. Selbstverständlich hat Donald Trump Orban für die kommenden Wahlen alles Gute gewünscht. Hierzulande schwärmt Roger Köppel für ihn – wenn er nicht gerade Putin preist.
Seit sich die nationalradikale Jobbik-Partei von ihrem offen faschistischen Flügel getrennt hat, besitzt Orbans Fidesz die Lufthoheit über die Rechtsextremen. So stellt der ungarische Autor György Dalos in seinem soeben erschienen Buch «Das System Orban» fest: «Unterdessen übernahm Orbans Braintrust die Themen der Rechtsradikalen – die nationalen Traumata, die offene EU-Gegnerschaft, die abgeschwächte Globalisierungskritik, die Idealisierung der Ära Horthy (Miklos Horthy war der von Hitler geduldete Premierminister im Zweiten Weltkrieg, Anm. d. Verf.) – und integrierte sie in die eigenen Narrative.»
Lange schien Orban fest im Sattel zu sitzen. Obwohl er bloss rund die Hälfte der Stimmen erhält, verfügt er im Parlament über eine komfortable Zweidrittelmehrheit. Die Abstimmungen sind dabei zu einem Schmierentheater verkommen. So berichtet Dalos, dass bei einer bedeutenden Abstimmung im Parlament gerade mal zehn Deputierten anwesend waren, «während die übrigen 189 durch Abwesenheit glänzten».
Nun aber gerät die bisher unantastbare Stellung von Orban ins Wanken. Schuld daran ist ausgerechnet sein Busenfreund Putin. Selbst wenn sie einen Nachbarn betreffen, sind russische Invasionen in Ungarn nicht beliebt, schliesslich können sie die Älteren noch an 1956 erinnern. Damals schlugen sowjetische Truppen einen Aufstand der Ungarn blutig nieder und installierten eine Marionettenregierung.
Orban hat Ungarn auch in eine gefährliche Abhängigkeit von Russlands Rohstoffen geführt. Nicht nur auf Öl und Gas ist das Land angewiesen. Für 12,5 Milliarden Euro hat Orban auch ein Atomkraftwerk bei Putin in Auftrag gegeben. Ungarn trägt die Sanktionen gegen Russland daher nur halbherzig mit.
Ungarn unterscheidet sich somit von Polen, wo ebenfalls Rechtskonservative an der Macht sind. «Der Antikommunismus in Polen ist gleichzeitig antieuropäisch und antirussisch, der in Ungarn dagegen nur antieuropäisch, aber gleichzeitig macht man mit Moskau Geschäfte», so Dalos.
Putins Krieg hat Ungarn von den anderen Verbündeten im Osten entfremdet. So musste ein für diese Woche in Budapest geplantes Treffen der Visegrad-Staaten abgesagt werden, weil den Tschechen, Slowaken und Polen Ungarns Nähe zu Russland nicht mehr geheuer ist und sie deshalb ihr Erscheinen absagten.
Innenpolitisch hat sich die Lage ebenfalls verändert. Erstmals hat sich die bis anhin heillos zerstrittene und chaotische Opposition auf einen gemeinsamen Herausforderer gegen Orban geeinigt. Er heisst Peter Marki-Zay und hat eine realistische Chance zu gewinnen. In Umfragen liegt er nur knapp hinter Orban zurück, wobei noch ein Viertel der Befragten unschlüssig sind. Das könnte entscheidend sein. «Bei rund acht Millionen Stimmberechtigten können ein paar hundert Stimmen den Ausschlag geben», stellt die «Financial Times» fest.
Allerdings hat Orban nach wie vor starke Trümpfe in der Hand. Anders als die Opposition ist seine Fidesz-Partei straff organisiert. Zudem ist in den letzten Tagen eine Propaganda-Walze über das Land gerollt, der die Opposition nichts entgegensetzen konnte. Der Ausgang der Wahlen ist daher offen.
Wie immer das Resultat auch ausfallen mag, Viktor Orban hat seinem Land bereits grossen Schaden zugefügt. Dalos zitiert die Schriftstellerin Krisztina Toth wie folgt: