Die Verwunderung war gross, als RTL mitten während der laufenden «DSDS»-Staffel das Aus von Dieter Bohlen beim Sender verkündete. Sowohl in der Castingshow als auch bei «Das Supertalent» wird er künftig nicht mehr in der Jury sitzen. Doch die Entscheidung gegen den knallharten Juror stellte sich nach und nach als Teil eines kompletten Kurswechsels des Senders heraus. Man wolle in der Zukunft familienfreundlicher werden, heisst es von den Verantwortlichen.
Dazu passt auch RTL-Neuzugang Hape Kerkeling, der nur kurz nach Bohlens-Aus bekanntgegeben wurde. Er wird zwar nicht bei den Castingshows zum Einsatz kommen, aber der Sender plant sowohl eine Serie als auch weitere Formate mit ihm.
Und RTL ist nicht der einzige Sender, der sich neu ausrichtet. Auch ProSieben schlägt seit einiger Zeit einen seriöseren Kurs ein. So zeigte der Münchner Sender kürzlich das erste exklusive Interview mit der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Ob die Gesprächsführung nun besonders gelungen war, sei mal dahingestellt. Aber die Botschaft ist deutlich: Wir wollen mit den Polit-Talk-Grössen der Öffentlich-Rechtlichen mithalten.
Und das bleibt nicht die einzige Bestrebung ProSiebens in Richtung mehr Ernsthaftigkeit und Wissensvermittlung. So räumte der Sender erst kürzlich sein Programm für eine von Joko und Klaas initiierte siebenstündige Pflege-Doku frei. Dafür verzichtete der Sender sogar komplett auf Werbung.
Zu guter Letzt wurde nun ausserdem bekannt, dass «Tagesschau»-Sprecherin Linda Zervakis eine eigene Live-Sendung bei ProSieben bekommt – zusammen mit Matthias Opdenhövel. Ein echter Coup, der auch als Angriff auf die ARD und das ZDF verstanden werden dürfte – und im Grunde auch auf RTL. Denn dort hat man sich seinerseits Jan Hofer – ebenfalls Ex-«Tagesschau»-Gesicht – für ein neues Nachrichtenformat gesichert.
Es sieht also ganz danach aus, als würden die Kursänderungen der beiden Privatsender gezielt zulasten der Öffentlich-Rechtlichen gehen. Sich so von seinen Kernkompetenzen abzuwenden, sieht Medien- und PR-Experte Ferris Bühler als «sehr grosses Wagnis» an, wie er gegenüber watson sagt.
RTL habe immer selbstbewusst auf die junge, werberelevante Zielgruppe geschaut, war mit seinen Formaten über Jahrzehnte erfolgreich unterwegs, «wenn Jan Hofer, Hape Kerkeling und Co. nun Dieter Bohlen ersetzen sollen, so finde ich dies riskant», meint Bühler.
Denn wenn RTL mit seinen Protagonisten und Formaten weniger aneckt und öffentlich weniger Gegenwind produziert, geht auch «die DNA verloren, welche RTL über Jahrzehnte prägte», so Bühler. «Ein soft-flauschiges Family-Weichspüler-Fernsehen für die ganze Familie wird RTL meiner Meinung nach nie werden», macht der Experte deutlich.
Ein Punkt, und der dürfte viel entscheidender für die Neuausrichtung sein, ist allerdings das Finanzielle, wie Bühler erklärt:
Das sieht auch Lutz Frühbrodt, Professor für Fachjournalismus an der Hochschule Würzburg, ähnlich. Er erklärt gegenüber watson: «Die privaten TV-Sender befinden sich in keiner leichten Situation. Das jüngere Publikum wandert zunehmend zu den US-amerikanischen Videostreaming-Plattformen ab. Hier versuchen sie mit TVNow und Joyn gegenzuhalten – bisher leidlich erfolgreich. Die älteren Zuschauer nutzen überwiegend die Öffentlich-Rechtlichen.»
Die Privatsender haben «die 'Alten' über Jahrzehnte weitgehend vernachlässigt», sagt Frühbrodt, denn für ihre Werbeeinnahmen, durch die sich RTL und Co. hauptsächlich finanzieren, seien sie weit weniger bedeutsam gewesen, als die 14- bis 49-Jährigen. «Erschwerend kommt hinzu, dass die Mediatheken der Privaten geringer ausgebaut sind als die von ARD und ZDF, man sich also nicht so gut vorbereitet hat auf das Zeitalter der non-linearen Mediennutzung», erklärt Frühbrodt weiter und meint: «Nun sind die Privaten also zum schnellen Handeln gezwungen.»
Und gehandelt wird, indem man die Älteren, also das Stammpublikum der Öffentlich-Rechtlichen, anlocken will. Dadurch wird das Programm teils drastisch angepasst. Ob das allerdings der richtige Weg ist, steht auf einem anderen Blatt. Bühler steht der Strategie zumindest kritisch gegenüber:
RTL setzt sogar verstärkt auf Trash-Formate auf seiner Online-Plattform TVNow. Mittlerweile gibt es viele Reality-Shows, die ausschliesslich dafür produziert werden. Beispielsweise «Ex on the Beach» oder «Temptation Island». Manchmal schaffen es die Sendungen nachträglich noch ins TV, so wie «Prince Charming» zu Vox. Dennoch zeigt gerade dieses Vorgehen umso deutlicher, dass die Sendergruppe RTL eine Verschiebung des Kernpublikums bewusst herbeiführt. Die Jungen dürfen online schauen, die Älteren linear im TV.
Ob RTL es allerdings schafft, so das Publikum von ARD und ZDF zu gewinnen, ist eine andere Frage. Allerdings ist klar, dass man sich mit Jan Hofer ein absolutes Aushängeschild der Öffentlich-Rechtlichen an Bord geholt hat, mit dem sich das ältere Stammpublikum stark identifiziert hat. Und das könnte tatsächlich den ein oder anderen Zuschauer anlocken, meint Bühler: «Da kann es durchaus sein, dass der eine oder andere Zuschauer dann seinen Lieblingsmoderatoren folgt und nach der Fernbedienung greift – sei es auch nur, um einmal zu schauen, welche Seite der Protagonist bei der Konkurrenz denn so zeigt.»
Doch als echte Konkurrenz für ARD und ZDF sieht er RTL dennoch nicht, dafür sei das ältere Stammpublikum «sehr loyal und treu». Hinzukommt, dass der Wandel von RTL auch nicht unbedingt glaubwürdig rüberkommt. «RTL hat sich über enorm viele Jahre eine klare Positionierung zugelegt und diese sehr profitabel monetarisiert. Wenn der Sender statt dem Dschungelcamp plötzlich auf investigative Nachrichtensendungen setzen will, so ist dies alles andere als glaubwürdig und am Publikum vorbei produziert. Ich gehe schliesslich auch nicht zu McDonald's, wenn ich ein Gourmet-Dinner essen will», kritisiert Bühler.
Professor Frühbrodt zweifelt ebenfalls stark an der Glaubwürdigkeit dieses Kurswechsels. Einfach so den Hebel umzulegen, hält er für unmöglich:
In diesem Fall hat ProSieben im Gegensatz zu RTL einen deutlichen Vorteil. Denn dort gehört bereits seit über 20 Jahren die unterhaltsame und informative Wissenssendung «Galileo» fest zur Primetime. «Da passt ein neues Informationsmagazin durchaus zur Positionierung und in den Programmmix», meint Medienexperte Ferris Bühler.
Letztendlich sind es aber nicht nur die Privaten, die sich verändern wollen. Auch ARD und ZDF basteln an ihrem Programm. Sie allerdings wollen jünger werden. Dafür holte man sich unter anderem Giovanni Zarrella als Moderator genauso wie RTL-Gesicht Sonja Zietlow. Der Grund für diesen Wandel dürfte in der generellen Ausrichtung der Öffentlich-Rechtlichen. Denn sie müssen für alle Bevölkerungsgruppen da sein, wie die Medienexperten Frühbrodt und Bühler erklären.
«Wenn das Durchschnittsalter aber bei 60 Jahren und mehr liegt, dann gibt es hier folglich ein strukturelles Problem. Mit ihrem Jugendangebot 'funk' sind ARD und ZDF diese Herausforderung für die sehr jungen Zuschauer zwischen 14 und 29 Jahren sehr erfolgreich angegangen. Bei den 30- bis 60-Jährigen kann ich aber noch keine wirklich überzeugende Lösung des Problems erkennen. Da klafft also noch eine riesige Lücke», meint Frühbrodt.
Auch Bühler sieht ARD und ZDF bei der jüngeren Zielgruppen in der Bringschuld. «Wenn wir die aktuellen Veränderungen als 'Anti-Aging'-Massnahmen betrachten, so entspricht das Engagement von Sonja Zietlow für eine Hundeshow natürlich nur einer oberflächlichen Hautstraffung. Aber um sich generell zu verjüngen, müssten ARD und ZDF viel tiefer gehen», sagt er.
Wer am Ende den besseren Kurs eingeschlagen hat, lässt sich aktuell noch nicht sagen. Doch eins ist sicher: Gerade RTL sollte bei all seinen Bemühungen um ältere Zuschauer sein über viele Jahre aufgebautes Stammpublikum nicht vergraulen.
Lineares Fernsehen ist, abgesehen von aktuellen Informationssendungen und Sport, wahrscheinlich sowieso bald Geschichte...