Der abscheuliche Angriff Russlands auf ein Kinderspital in Kiew zeigt einmal mehr, dass Wladimir Putin vor nichts zurückschreckt und dass er mit allen Mitteln gestoppt werden muss. Genau dies will die NATO offensichtlich auch tun. Am Gipfeltreffen in Washington wird deshalb nicht nur das 75-jährige Jubiläum gefeiert. Es werden auch Strategien entworfen, wie die Ukraine gegen Russland verteidigt werden kann, selbst wenn Trump ins Weisse Haus zurückkehren sollte.
Joe Biden hat den Gipfel mit einer kämpferischen Rede und einer Warnung an Putin eröffnet: «Der Krieg wird damit enden, dass die Ukraine ein freies und unabhängiges Land bleiben wird», so der US-Präsident, der gleichzeitig einmal mehr versicherte, dass die NATO jeden Fussbreit ihres Territoriums verteidigen werde, und davor warnte, dass Putin nicht an der ukrainischen Grenze Halt machen werde, sollte er den Krieg gewinnen.
Es sind mehr als leere Worte. Die meisten NATO-Mitgliedsländer haben den Ernst der Lage erkannt. 23 von 32 werden dieses Jahr die Vorgabe, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungszwecke einzusetzen, erfüllen. Zum Vergleich: 2016 waren es bloss 5 Länder. Nicht nur die USA rüsten auf: Kanada und die 30 europäischen Nationen werden über 500 Milliarden Dollar für die Rüstung aufwenden.
Jake Sullivan, Bidens nationaler Sicherheitsberater, zählt in einem Gastkommentar in der «New York Times» auf, was dies konkret bedeutet: «In den nächsten fünf Jahren werden unsere NATO-Verbündeten mehr als 650 F-35-Kampfjets der modernsten Generation erwerben. Dazu kommen 1000 Flugabwehrsysteme, beinahe 50 Kriegsschiffe und Unterseeboote, 1200 Panzer, 11’300 Kampffahrzeuge und beinahe 2000 Artilleriesysteme.»
Angesichts der russischen Attacken mit intelligenten Raketen hat Biden den Ukrainern versprochen, rasch weitere Abwehrsysteme zu liefern. Doch smarte Waffen allein genügen nicht, um die Russen wirksam zu bekämpfen. Um die zynischen «Fleischwolf»-Angriffe der russischen Armee abzuwehren, brauchen die Ukrainer vor allem auch sehr viel traditionelle Artillerie-Munition.
Die NATO will an ihrem Gipfel das Verteidigungsbündnis auch «Trump»-sicher machen. Der Ex-Präsident ist bekanntlich kein Fan und hat in seiner Amtszeit mehrmals für Chaos innerhalb der NATO gesorgt. Seine Drohung, Putin könne mit den Ländern, die ihren finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen, «machen, was immer er zum Teufel auch will», hat die Nerven ebenfalls nicht beruhigen können.
Ein rascher NATO-Beitritt wäre daher die sicherste Option für die Ukraine. So schreibt der «Economist»: «Nur innerhalb der NATO kann sich die Ukraine wirklich sicher fühlen. Die Gipfelteilnehmer in Washington sollten sich daher dazu verpflichten, das Land so rasch wie möglich aufzunehmen. Damit würden sie klarstellen, dass Putin eine Aufnahme nicht verhindern kann, indem er den Krieg verlängert. Artikel 5 würde nicht notwendigerweise erfordern, dass NATO-Truppen in der Ukraine kämpfen müssten. Die NATO könnte ihren Verpflichtungen nachkommen, indem sie grosszügig Waffen liefert und bei der Logistik und der Aufklärung mithilft.»
Zum gleichen Schluss kommt auch M.E. Sarotte, Politologin und Militärexpertin an der Johns Hopkins School. In einem Essay in «Foreign Affairs» plädiert sie nicht nur für eine rasche Aufnahme der Ukraine in die NATO, sie erklärt auch, dass dies selbst dann möglich ist, wenn die Russen weiterhin Teile des Landes besetzt halten.
Sarotte vergleicht die Lage mit Deutschland im Kalten Krieg: «Nachdem Westdeutschland der NATO 1955 beigetreten ist, konnte es sowohl seinen wirtschaftlichen Aufschwung als auch seine demokratischen Regeln verfestigen und wurde gleichzeitig eine wichtige Exportnation und ein starkes NATO-Mitglied – eine Zukunft, die der Ukraine zu wünschen ist», stellt sie fest.
Grundsätzlich wäre ein NATO-Beitritt der Ukraine noch vor dem 20. Januar 2025 – dem Datum, an dem der gewählte amerikanische Präsident vereidigt wird – möglich. Das wird jedoch kaum der Fall sein. Nicht nur Putin-Freunde wie Viktor Orban, der Ministerpräsident von Ungarn, wehren sich dagegen. Auch die USA und Deutschland hegen noch Bedenken.
Was sich jedoch abzeichnet, ist eine «Brücke», welche der Ukraine einen künftigen Beitritt ermöglichen soll. Derzeit ringen die Teilnehmer um die Formulierung des Abschluss-Kommuniqués. Es geht darum, ob der Weg der Ukraine in Richtung NATO «unwiderruflich» sei oder nicht.
Ivo Dolder, der amerikanische Botschafter bei der NATO unter Barack Obama, erklärt gegenüber der «Washington Post»: «Das bringt die Ukraine und die NATO näher zusammen, sowohl praktisch als auch operativ. Der strategische Punkt eines NATO-Beitritts der Ukraine ist damit allerdings noch nicht gelöst.»
Möglicherweise wird die Angst vor Trump auch übertrieben. Der Ex-Präsident ist unberechenbar. Bezüglich der NATO muss man ihm jedoch zugutehalten, dass er mit seinem flegelhaften Auftreten immerhin erreicht hat, dass nun die meisten Mitgliedsländer ihre finanziellen Verpflichtungen ernst nehmen. «Trump hat niemals eine Verpflichtung gegenüber der NATO gestrichen oder verzögert», stellt Robert O’Brien, ein ehemaliger Sicherheitsberater in «Foreign Affairs» fest. «Er hat die Regierungen der NATO-Mitglieder unter Druck gesetzt und sie gezwungen, ihre Verteidigungs-Ausgaben zu erhöhen.»
Ebenfalls unklar ist, ob Trump die Ukraine tatsächlich an Putin ausliefern würde. O’Brien erklärt dazu: «Trump würde der Ukraine weiterhin tödliche Waffen zuliefern, allerdings bezahlt von den Europäern. Gleichzeitig würde er das diplomatische Fenster zu Russland geöffnet halten – und Moskau im Ungewissen lassen.»
Dies geschah nämlich einige Zeit, nachdem Trump schon aus dem Amt war. Was Trump eher verursacht hat, ist, dass er Russland bestärkt hat, ihren expansionistischen Interessen nachzugehen.
Falls die NATO-Staaten sich dann nicht nach Trumps Vorstellungen verhalten, sollen sie an Russland fallen.
Abscheulich und in grossen Masse beängstigend,