In «normalen» Zeiten ist es eine Formalität: Zwei Wochen vor der Vereidigung eines US-Präsidenten versammelt sich der Kongress, um dessen Wahl durch das Electoral College offiziell zu bestätigen. Vor einem Jahr aber war gar nichts normal. Am 6. Januar 2021 stürmten hunderte fanatisierte Trump-Anhänger das Kapitol in Washington.
Die Bilder haben sich in das Gedächtnis vieler Menschen eingebrannt. Eine überforderte Kapitol-Polizei liess die Angreifer gewähren. Die Abgeordneten und Senatoren sowie Vizepräsident Mike Pence mussten flüchten oder verbarrikadierten sich in ihren Büros, während sich der Mob in den «heiligen Hallen» der US-Demokratie austobte.
Erst nach Stunden konnten Polizei und Nationalgarde den Spuk beenden und Joe Biden als gewählter Präsident bestätigt werden. Sein Vorgänger Donald Trump verliess das Weisse Haus am 20. Januar quasi durch die Hintertür. Seine Niederlage hat er nie eingestanden. Er ist vielmehr überzeugt, dass ihm der Wahlsieg gestohlen wurde.
Das führt zum Kern des Problems. Denn in «normalen» Zeiten könnte ein solcher Angriff auf das Herz der Demokratie als Weckruf für eine gespaltene Nation dienen. Doch auch in dieser Hinsicht ist in den heutigen USA nichts normal. Der Graben zwischen Unterstützern der Demokraten und der Republikaner ist seit dem Kapitol-Sturm noch tiefer geworden.
Den Beleg liefert eine zum Jahreswechsel veröffentlichte Umfrage der «Washington Post» und der University of Maryland. Demnach halten fast 30 Prozent der Befragten Joe Biden nicht für den legitimen Präsidenten. Ebenso viele (und 62 Prozent der Republikaner) glauben, es gebe überzeugende Beweise für Betrug bei der Präsidentenwahl.
Dies zeigt, wie weit sich die Wählerschaft der Republikaner von einer faktenbasierten Weltsicht entfernt hat. Denn selbst eine von den Republikanern in Auftrag gegebene und von einer Pro-Trump-Gruppe durchgeführte Nachzählung im Bundesstaat Arizona ergab am Ende nur heisse Luft, aber keinen einzigen stichhaltigen Hinweis auf Wahlbetrug.
Wen erstaunt da das bedenklichste Ergebnis der «Post»-Umfrage? Nur 54 Prozent der Befragten sind «sehr» oder «ziemlich» stolz darauf, wie die amerikanische Demokratie funktioniert. Also etwas mehr als die Hälfte. Damit setzt sich ein dramatischer Trend fort: Vor bald 20 Jahren, im Herbst 2002, zeigten sich 90 Prozent stolz auf ihre Demokratie.
Heute sind nur 11 Prozent «sehr stolz» auf das System. Das betrifft sowohl Demokraten als auch Republikaner, aber gleichzeitig ist das gegenseitige Misstrauen abgrundtief. Das Urteil des konservativen Publizisten und Trump-Gegners David Frum zum Kapitol-Sturm erstaunt deshalb nicht: «Solche Attacken auf unser demokratisches Fundament sind die neue Normalität.»
Es lässt sich nicht beschönigen: Die amerikanische Demokratie befindet sich in einem lamentablen Zustand. Perfekt war sie nie, im Gegenteil, man denke nur an Sklaverei und Rassentrennung. Trotzdem besass sie in Kombination mit dem American Way of Life eine enorme globale Strahlkraft. Umso mehr profitieren die Autokraten von ihrer heutigen Krise.
Und Besserung ist nicht in Sicht. Die Republikaner zeigen teilweise offene Bewunderung für die «illiberale Demokratie» eines Viktor Orban. Es ist ein System, in dem sich eine Partei mit Pro-Forma-Wahlen auch dann an der Macht halten kann, wenn sie in der Minderheit ist. Mit ihren Attacken auf das Wahlsystem bereiten sie den Weg dafür.
So «revidieren» sie Wahlgesetze und Wahlkreise zu ihren Gunsten. Hinzu kommt ein weiterer, bei uns häufig übersehener Aspekt: Immer mehr Trump-Gefolgsleute lassen sich in die für die Durchführung und Kontrolle von Wahlen zuständigen Gremien wählen. Mit dem kaum versteckten Ziel, ein für die Partei negatives Ergebnis notfalls «umzudrehen».
Bei den Wahlen 2020 hatten die Republikaner in den Bundesstaaten solchen Bestrebungen widerstanden. Seither aber hat sich die Partei ihrem faktischen Anführer Donald Trump noch mehr unterworfen als zuvor. Teils aus Bewunderung für seine Mobilisierungskraft, teils aus Angst, wie Gary Schmitt vom konservativen Think Tank American Enterprise Institute meint.
Die Demokraten können dem wenig entgegensetzen. Zwar kontrollieren sie das Weisse Haus und beide Kammern im Kongress, aber sie wirken zerstritten. Das ist Ausdruck ihres breiten Spektrums, aber auch eines Führungsvakuums. Der Partei fehlt eine Leader-Figur, die alle hinter sich schart. Präsident Biden kann diese Rolle nicht einnehmen.
Die Parteibasis hat ihn nicht aus Überzeugung nominiert, sondern weil er «harmlos» genug war, um für die von Trump angewiderte Mittelschicht in den Suburbs wählbar zu sein. Diese Rechnung ging auf, dennoch ist Biden für viele Demokraten eine Figur von gestern. Gleiches gilt für die 81-jährige Nancy Pelosi, die Vorsitzende des Repräsentantenhauses.
Chuck Schumer, ihr Pendant im Senat, ist ein tüchtiger Politiker, aber kein charismatischer Anführer. Insgesamt sind die Demokraten nach links gerutscht. Als sie unerwartet vor einem Jahr gleich beide Senatssitze im Südstaat Georgia erobern konnten, glaubte der progressive Flügel im Überschwang der Gefühle, er könne das grosse Rad drehen.
Beim Corona-Hilfspaket und beim Infrastrukturprogramm ging es gut, doch dem Sozial- und Klimapaket «Build Back Better» entzog der konservative Senator Joe Manchin aus West Virginia kurz vor Weihnachten die Unterstützung. Es zeigte sich, dass die Progressiven um Bernie Sanders sich mit ihrem Traum von «Big Ideas» verrannt hatten.
Vielleicht lassen sich einzelne Elemente des Pakets retten, etwa das Kindergeld oder die Gratis-Kitas für Drei- und Vierjährige. Dennoch sind die Aussichten der Demokraten für die Zwischenwahlen im November düster, auch wegen der Inflation, die viele im Portemonnaie spüren. Die Regierung tue zu wenig dagegen, ergab eine CNN-Umfrage.
Falls die Demokraten die Mehrheit im Abgeordnetenhaus verlieren, droht einmal mehr eine politische Blockade in Washington. Ob Donald Trump 2025 wieder ins Weisse Haus einziehen wird – sofern er das will –, ist trotzdem alles andere als sicher. Eine Mehrheit der Amerikaner beurteilt ihn nach wie vor negativ, vor allem die Frauen.
Die nächsten Jahre dürften unruhig bleiben, mit Potenzial für weitere Gewaltausbrüche. Aufgeben aber ist etwa für David Frum keine Option: «Die amerikanische Demokratie hat ein starkes Fundament und es lohnt sich, dafür zu kämpfen.» Vor allem der Rechtsstaat scheint intakt zu sein, auch wenn man sich beim Supreme Court nicht mehr so sicher ist.
Zum Kapitol-Angriff dürften in diesem Jahr weitere Details publik werden. Der bislang meist hinter verschlossenen Türen tagende Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses will laut US-Medien im Sommer einen Zwischenbericht veröffentlichen. Ausserdem sind öffentliche Anhörungen geplant. Für Spektakel dürfte in diesem Fall gesorgt sein.
Viel erwarten aber darf man nicht. Die Republikaner boykottieren die Kommission. Nur zwei ihrer Mitglieder haben Einsitz genommen. Beide wurden von der Partei als «Parias» ausgesondert, ihre politische Karriere dürfte vorbei sein. Es erstaunt deshalb nicht, dass immer weniger Amerikaner ihrer Demokratie noch vertrauen.
Das glaube ich nicht. Trump weiss so gut wie jeder nur halbwegs gebildete Amerikaner, dass Biden die Wahl rechtmässig gewonnen hat. Er und die republikanische Elite kommen mit ihrer "Big Lie" nur durch, weil es so viele Ungebildete und Untgerbelichtete gibt in den USA.