Schulter an Schulter sitzen die fünf chinesischen Ärzte am grossen Konferenztisch der Universität von Guangzhou, ihre Blicke starr auf die Videokamera gerichtet, bis Zhong Nanshan das Wort erhebt. Er ist Lungenfacharzt in der Provinz, renommierter Professor und Spezialist für das Coronavirus. Was er an diesem Mittwoch sagt, geht einmal um die halbe Welt – bis ins 5'000 Kilometer entfernte Doha, Katar .
Dort sitzt neben katarischen Ärzten auch Saleh Ali Al-Marri, stellvertretener Gesundheitsminister des Emirats, vor seinem Computer.
Und braucht Hilfe.
Denn in seinem Land wütet die Lungenseuche immer schlimmer. Am Montag meldeten die Behörden den 133. Corona-Toten und mehr als 100'000 Virusinfektionen – als zweites arabische Land überhaupt. Zum Vergleich: Das benachbarte Saudi-Arabien hat bislang die meisten Corona-Fälle der Region. Dort haben sich über 213'000 Menschen mit dem Virus infiziert und es gab rund 2'000 Todesfälle. Doch in Saudi-Arabien leben rund 33 Millionen Menschen – in Katar lediglich 2.7 Millionen.
Auf jeden Katarer mit Mundschutz über der Nase kommen sieben Wanderarbeiter mit Dreck im Gesicht. Nur 300'000 Menschen stammen gebürtig aus Katar, der Rest kommt aus Indien, Pakistan oder Nepal. Sie haben ihre Heimat verlassen, um für die Reichsten der Reichen im Wüstenstaat die Häuser zu pflegen, Wohnungen zu bauen oder Paläste zu errichten. Wie das Monument aus Glas in Al-Wakrah, nur ein paar Kilometer von der Hauptstadt Doha entfernt.
Mit seinen geschwungenen Wölbungen, dem Schimmern des Lichts aus dem Inneren, und der schmalen Öffnung in der Dachmitte, ist es der Katarer ganzer Stolz. Und soll in eineinhalb Jahren tausende Menschen aus aller Welt empfangen – zur Fussball-Weltmeisterschaft .
Dann ist das Heer der Wanderarbeiter rund um das High-Tech-Stadion bereits weg – doch noch schlafen sie ganz in der Nähe in ihren Stockbetten in überfüllten Räumen. Sie haben keinen Zugang zu Sanitäranlagen, haben kaum Strom und selten fliessendes Wasser – aber das Coronavirus vor dem sie sich nicht schützen können.
Während weltweit versucht werde, die Corona-Pandemie einzugrenzen, «sitzen Arbeitsmigranten in Massenunterkünften, wie denen in Katar, fest und sind dort extrem gefährdet, sich mit dem Virus anzustecken», heisst es in einem Lagebericht von Amnesty International . Regina Spöttl, Katar-Expertin der Menschenrechtsorganisation, ergänzt gegenüber t-online.de: «Viele der Arbeiter werden morgens in überfüllten Kleinbussen zu ihren Arbeitsplätzen gefahren und abends wieder zurückgebracht. Social Distancing, wie bei uns in Europa längst praktiziert, ist in diesen beengten Arbeits- und Lebensräumen nicht denkbar. Das Virus kann sich so unter Idealbedingungen verbreiten.»
So ideal, dass die Corona-Zahlen im Land unaufhaltsam wachsen – und es dabei fast immer Arbeiter sind, die sich mit dem Virus infizieren. Nachdem das Land lange von der Pandemie weitgehend verschont blieb, waren es im April bereits mehrere hundert Fälle pro Tag. Im Mai wuchs die Zahl plötzlich auf fast 2'000 – sodass das Königreich rigorose Massnahmen beschloss.
Zwar gibt es keinen Lockdown, doch wer in Katar das Haus verlässt und die trockne Wüstenluft einatmen will, sollte dies nur mit einem Schutz vor Nase und Mund tun. Überall gilt Maskenpflicht , wer ohne erwischt wird, dem drohen saftige Strafen: 51'000 Euro oder drei Jahre Gefängnis. Ausgenommen sind lediglich Personen, die allein im Auto unterwegs sind.
Katar war auch eines der ersten Länder, die eine Corona-App entwickelten, mit der Infektionsketten zurückverfolgt werden können. Eine Million Mal wurde «Ehteraz» bislang heruntergeladen, somit hat jeder dritte Einwohner die Software installiert. Auch die App ist Pflicht, hat man sie nicht auf dem Smartphone, drohen ebenfalls hohe Strafen. Und unumstritten ist sie nicht.
Während in Deutschland Einzelheiten von den Corona-App-Nutzern nicht zentral gespeichert werden, sammelt Katar unentwegt Daten: Medienberichten zufolge hat die App Zugriff auf den privaten Handybereich, auch auf Fotos und Videos. Android-Nutzer müssen den Zugriff auf ihre Bilder nach der Installation erlauben, sonst läuft die Software nicht. Ausgeschaltet werden kann die App ebenfalls nicht.
Nichtsdestotrotz bringt die App Sicherheit – zumindest für den kleinen reichen Teil der Bevölkerung. Als vor einigen Wochen eine Corona-Infektion in ein Industriegebiet in Doha zurückverfolgt werden konnte, wurde das Gebiet konsequent abgeriegelt. Einige hundert Bauarbeiter hatten sich mit Corona infiziert, sie verdienen ihr Geld als Tagelöhner, wohnen meist in Baracken direkt in der Nähe der Baustellen, von denen es hier massenhaft viele gibt – nun waren sie eingesperrt.
Dort wird es dann erst richtig schlimm: «Das Abstandhalten in den Massenquartieren und in den abgeschotteten Quarantänelagern im Industriegebiet ist nicht möglich», erklärt Spöttl. «Dazu kommen noch Versorgungsengpässe bei Trinkwasser und Nahrung. Wenn verzweifelte Arbeitsmigranten dann die Quarantänevorschriften brechen, um Essen und Getränke zu besorgen, laufen sie Gefahr, aufgegriffen und in ebenfalls überfüllte Haftzentren gebracht oder sogar in ihre Heimatländer abgeschoben zu werden.»
Das Königreich beteuert zwar, dass die Menschen in der Quarantäne unter ärztlicher Aufsicht behandelt werden – doch so ganz glaubt Spöttl das nicht. Die ausländischen Arbeitskräfte dürften während der Corona-Pandemie «nicht noch weiter an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden» und müssten «Zugang zu medizinischer Versorgung und Krankengeld erhalten müssen, wenn sie krank sind und nicht arbeiten können» sagt sie. «Alle Arbeitskräfte müssen Schutzkleidung und Gesichtsmasken bekommen, um sich und andere vor Ansteckung zu schützen. Nur so lässt sich die Ansteckungsgefahr etwas mindern.»
Auch das Ausland sieht Spöttl in der Pflicht: Schliesslich steht mit der Fussball-WM das weltgrösste Sportereignis in nicht allzu ferner Zukunft an: Nicht nur Regierungsvertreter, sondern auch die FIFA sowie einflussreiche Sport-Funktionäre und Spieler «müssten ihren Zugang zur katarischen Regierung und anderen Entscheidungsträgern in Katar unbedingt nutzen, um die Schutzmassnahmen für die Arbeitsmigranten zu verbessern.»
Ein Land hat seinen Einfluss auf das Königreich bereits genutzt. Professor Nanshan und Minister Al-Marri lächeln zum Ende ihrer Videokonferenz für die Pressefotografen. Der Gesundheitsminister lobt China für seinen erfolgreichen Kampf gegen die Pandemie, betont auffällig oft die guten Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Auch Pekings Botschafter im Wüstenstaat bedankt sich in den chinesischen Nachrichtenagenturen überschwänglich für die Gedankenaustausch. Al-Marri kann sich offenbar der benötigten Hilfe sicher sein – wenn auch nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung.
Verwendete Quellen: