Die bunt angemalte Eingangstüre des Rathauses in Offenbach ist das einzig Farbenfrohe an diesem sonst tristen, brutalistischen Betonklotz. Auf einem Pfeiler, der das Gebäude stützt, ist ein Schild angebracht. «Dieser Bau wurde vom hessischen Staat als vorbildliche Leistung ausgezeichnet, 1973», steht darauf.
Durch diese bunte Tür treten um Punkt 10 Uhr Martin Wilhelm, Abdelkader Rafoud und Ali Karakale.
Stadtrat Martin Wilhelm (SPD) ist Sozialdezernent von Offenbach. Abdelkader Rafoud ist Vorsitzender des Ausländerbeirats und Ali Karakale ist Migrationsberater. Gemeinsam wollen sie mich auf einem Spaziergang durch die Stadt führen und mir zeigen, warum Offenbach immer wieder als Integrationswunder Deutschlands bezeichnet wird.
Wir laufen los. Durch die Frankfurter Strasse, der Einkaufsmeile der Stadt. TK Maxx, Galeria Kaufhof, Tchibo, alle gängigen Läden, die man auch in anderen deutschen Städten antrifft, findet man hier. Hauptsächlich sind es aber internationale Geschäfte. Das Damascus Falafel House, Ali Baba, der seit 1982 hier Döner verkauft, allerlei türkische Cafés, das Restaurant Anatolia und das Restaurant Fantasia, von denen es bereits drei in der Stadt gibt. Die Menschen erkennen Rafoud und Karakale auf der Strasse, sagen hallo. «Man kennt sich hier», wird mir gesagt.
Offenbach ist eine Stadt der Superlative. Ihre Bewohner gehören zu den einkommensschwächsten in Deutschland. Jeder Achte lebt von Sozialhilfe, die kleine Schwester Frankfurts wird zudem oft als «Pleite-Stadt» bezeichnet. Offenbach ist zudem die Stadt in Deutschland mit dem höchsten Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund, 160 Nationalitäten leben hier zusammen. 60,8 Prozent der Menschen haben einen Migrationshintergrund. Und doch: Offenbach gilt als Integrationswunder. Oder wie Abdelkader Rafoud sagt: «Offenbach ist eine Integrationsmaschine».
Möglich ist das, weil hier alle an einem Strang ziehen, erzählt Rafoud. Er ist bereits seit Jahrzehnten Vorsitzender des Ausländerbeirats, seine Eltern sind in den 70er-Jahren aus Casablanca nach Deutschland gekommen. Damals war Offenbach noch eine Industriestadt, welche Gastarbeiter aus der ganzen Welt angezogen hat. Vor allem aus der Türkei und Nordafrika. Heute ist die Industrie grösstenteils verschwunden. Und mit ihr das Geld. Die ausländischen Einwohner sind jedoch geblieben.
Rafoud arbeitet mit über 70 Vereinen in der Stadt zusammen. Sie kommen zu ihm mit ihren Problemen und Anliegen, seine Tür ist immer offen. Über 600 Beratungen führt er im Jahr durch. Rafoud ist sozusagen alle Personen mit Migrationshintergrund in einer. Der personifizierte Migrationshintergrund. Mit Bobfrisur.
Auch Ali Karakale könnte das von sich behaupten (für die Bobfrisur ist es jedoch leider schon zu spät). Als Migrationsberater hilft er den Leuten bei der Wohnungs- und Jobsuche oder aber beim Finden von Vereinen, Deutschkursen oder ehrenamtlichen Tätigkeiten.
Gemeinsam teilen sie die Sorgen und Anliegen der ausländischen Bevölkerung mit Martin Wilhelm, der als Sozialdezernent und Stadtrat den nicht Stimmberechtigten eine Stimme verleiht.
«Offenbach ist keine reiche Stadt, wir sind aufeinander angewiesen. Das klassische Behördendenken können wir uns gar nicht leisten», sagt Wilhelm. Die Zusammenarbeit zwischen den Vereinen, dem Ausländerbeirat und den Migrationsberatern sei zentral. Kurze Entscheidungswege solle es geben, die Kommunikation müsse stimmen. Klingt für mich nach Marketing-Sprech eines Start-Ups. Ich glaube es ihnen trotzdem.
Wir laufen weiter durch die Stadt und erreichen das Nordend. Neben dem Erotik-Shop Orion (Slogan: «Erotisch shoppen») steht die Agentur für Arbeit. Sonst: Plattenbauten.
Das Nordend ist das Stadtviertel mit den engsten Wohnverhältnissen von Offenbach. Nirgends sonst leben so viele Bewohner auf so engem Raum. In Offenbach fehlt es an allen Ecken und Enden an Sozialwohnungen. Etwa fünf Prozent der rund 50'000 Wohnungen sind von der Stadt subventioniert. Dies öffnet Tür und Tor für Miethaie, welche hilflose Wohnungssuchende zu viert in eine Einzimmer-Wohnung stecken und dafür 600 Euro im Monat berechnen. «So lässt sich gut Profit machen – auf Kosten der Mieterinnen und Mieter», sagt Wilhelm.
Auch so steht der Wohnungsmarkt in Offenbach unter Druck. Das Rhein-Main-Gebiet ist beliebt, die Mieten haben sich in den letzten Jahren fast verdoppelt. Dies führt unweigerlich zur Gentrifizierung der Stadt, und damit auch zum potenziellen Exodus der Menschen mit Migrationshintergrund, die oftmals aus tieferen sozialen Schichten stammen. Selbst für Familien aus dem mittleren Einkommensbereich wird es zunehmend schwerer, bezahlbaren Wohnraum zu finden.
Momentan ist sie aber noch intakt, die multikulturelle Welt Offenbachs. Und auch das Wohnungsproblem führe nur dazu, dass die Bewohner noch enger zusammenarbeiten.
Um mir das zu demonstrieren, gehen wir in einen unscheinbaren Hinterhof. Hier befindet sich das Freiwilligenzentrum Offenbach. Wir werden in einen Raum im ersten Stock geführt, der wie ein Schulzimmer anmutet. Flipcharts, schlichte Holztische, im Halbkreis platziert. In einer Ecke sind kleine Flaggen aus aller Herren Länder aufgestellt.
Ich werde freundlich begrüsst, setze mich hin, nicht ganz sicher, was mich hier erwartet. Mehr und mehr Personen kommen in den Raum, zeitweise waren es vierzehn. Fast alle sind ehrenamtlich hier. Sie sind Integrationslotsen.
«Das Projekt wurde 2018 gestartet», erzählt Sigrid Jacob, die Leiterin des Freiwilligenzentrums. Über 50 Sprachen werden hier gesprochen. Die Lotsinnen und Lotsen helfen Neo-Offenbacher bei ihrer Ankunft. Unterstützen bei der Jobsuche oder beim Auffinden eines Sprachkurses. Ähnlich wie Ali Karakale, einfach ehrenamtlich. Und mit spürbarem Stolz. «Es macht ja auch Spass hier, das ist nicht nur Arbeit», sagt eine ältere Frau bestimmt.
Ich bin beeindruckt ob so viel Engagement. Es scheint, als sei Integration in Offenbach kein Problem, das es zu lösen gilt, sondern seit jeher Teil der Identität der Offenbacherinnen. Wer einmal integriert ist, hilft den nächsten, es ihnen gleichzutun.
Wir verlassen das Integrationszentrum und damit auch das Nordend und laufen in Richtung Hafenviertel, dem letzten Punkt des Spazierganges.
Einmal die Strasse überquert und man wähnt sich in einer anderen Welt. Neubauten, Kinderspielplätze, ein hipper Hafenkran, breite Flusspromenade. So gar nicht Offenbach.
Martin Wilhelm erzählt mir, dass dieses Viertel erst in den letzten Jahren entstanden ist, dass man damit den Besserverdienenden aus Offenbach ein Wohnungsangebot machen will. Doch auch hier wurde an die Integration und soziale Durchmischung gedacht. Das Viertel grenzt direkt an das Nordend, eine neue Schule soll die Kinder beider Quartiere vereinen. Und dann wäre da noch der Hafengarten.
Dorthin soll es gehen, der breiten Flusspromenade entlang. Ich will von Wilhelm wissen, was er von den letzten 16 Jahren unter Angela Merkel hält und wie sie die Stadt Offenbach beeinflusst hat. «Ganz wesentlich», sagt er. «Der Bund beschliesst laufend Sachen, wie zum Beispiel einen höheren Betreuungsschlüssel, aber geben uns das Geld dafür nicht.» Er wünscht sich deswegen ein Ende der grossen Koalition, die CDU in der Opposition, damit «nicht nur verwaltet, sondern auch mal etwas Mutigeres in Angriff genommen wird.»
Beim Hafengarten angekommen, wartet Koordinatorin Alexandra Walker bereits auf uns. Sie strahlt und erzählt von einem Riesenkohlrabi, den sie entdeckt hat.
Der Hafengarten ist ein Urban Gardening Projekt am Mainufer. Gestartet hat alles 2013 mit ein paar Gemüsekisten, mittlerweile beackern 120 Leute auf 70 Parzellen das Land. Alt und Jung, Arm und Reich, deutsch und nicht deutsch. Das Gemüse interessiert es nicht, wer den Samen sät.
Flaschenkürbisse, Bittergurken, Chillies, Auberginen, Tomaten, Sonnenblumen, Salbei, Basilikum, aber auch Zierpflanzen, alles da. Das Gärtnern verbindet die Leute, schafft eine Grundlage für gemeinsame Diskussionen. Man helfe einander, vor Corona habe man sich noch jeden Sonntag an der weissen Tafel getroffen, erzählt Walker.
Essen als Schmieröl der kulturellen Verständigung. Hat schon immer funktioniert. Offenbach scheint auf die richtigen Karten zu setzen, auch ohne viel Geld. Dafür mit Erfahrung und gutdeutscher Willenskraft.
«Da läuft schon einiges richtig in dieser Stadt», sagt Walker, als wir uns verabschieden. Ich glaube auch ihr.
Und dann fragt sich die Politik warum die Fronten derar verhärtet sind.