Es ist eine ungewöhnliche Szene an diesem drückend heissen Dienstagmittag im Ehrenhof des Kanzleramts - die Bilder wirken ziemlich dramatisch. Angela Merkel steht links neben Wolodymyr Selenskyj auf einem mit rotem Stoff bezogenen Podest, die ukrainische Nationalhymne ist gerade zur Begrüssung des neuen Präsidenten verklungen. Als die ersten Töne der deutschen Nationalhymne zu hören sind, beginnt die Kanzlerin zu zittern. Ein paar Sekunden später schlottert ihr ganzer Körper.
Die Kanzlerin presst die Lippen zusammen, unbedingt bemüht, das Zittern zu unterdrücken und Haltung zu bewahren. Es ist sind Temperaturen wie im Hochsommer, um die 30 Grad im Schatten zeigt das Thermometer. Merkel und der Präsident stehen in der gleissenden Sonne, da dürfte es noch um etliches wärmer gewesen sein.
Dann ist die Nationalhymne verklungen und der Spuk ist vorbei: Merkel und Selenskyj können endlich losgehen. Als die Kanzlerin mit dem Ukrainer die Ehrenformation des Bundeswehr-Wachbataillons abschreitet, wirkt es, als sei nichts gewesen. Die Kanzlerin und der Präsident laufen teils eng nebeneinander. Am Ende, bevor beide zum Gespräch ins Kanzleramt verschwinden, gestikuliert Merkel lebhaft.
"Inzwischen habe ich drei Gläser Wasser getrunken, insofern geht es mir sehr gut." sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel, nachdem sie beim Empfang des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei ca. 30 Grad Celsius stark gezittert hatte. pic.twitter.com/IrMN1RJu2o
— DW Politik (@dw_politik) June 18, 2019
Es ist nicht das erste Mal, dass die Kanzlerin mit derartigen Symptomen von Dehydrierung zu kämpfen hat - offensichtlich vergisst Merkel wie viele Menschen gelegentlich, genug zu trinken. Bei einem Besuch in Mexiko-Stadt im Juni 2017 macht ihr beim Empfang durch den damaligen Präsidenten Enrique Peña Nieto offensichtlich die Höhenluft in der auf über 2000 Metern liegenden Hauptstadt zu schaffen. Auch damals zittern Merkel beim Abspielen der Nationalhymnen deutlich sichtbar die Beine - bis sie zum Abschreiten der Ehrenformation losgehen kann. Auch damals wird Wassermangel als Erklärung genannt.
Anfang Dezember 2014 muss Merkel am Rand des CDU-Parteitags in Köln die Aufzeichnung eines ZDF-Interviews unterbrechen. Regierungssprecher Steffen Seibert sagt damals: «Die Bundeskanzlerin fühlte sich einen Augenblick lang nicht wohl, hat dann etwas gegessen und getrunken und die Interviews anschliessend fortgesetzt.»
Dabei ist Merkel ansonsten international bekannt für ihre robuste Gesundheit. Ihre Konzentrationsfähigkeit und ihr Durchhaltevermögen selbst bei extrem langen Nachtsitzungen wird weltweit gefürchtet. Nur Anfang 2014 muss die Kanzlerin nach einem Unfall beim Skilanglauf drei Wochen lang viel liegen - damals nimmt sie wenige Termine wahr und arbeitet von zu Hause aus.
Am Dienstag treten Merkel und Selenskyj gut eine Stunde nach den militärischen Ehren und einem Arbeitsmittagessen vor die Kameras. Es geht um die Krise auf der Krim und im Donbass, die Aggression von Russlands Präsident Wladimir Putin gegen die Ukraine, die Sanktionen gegen Moskau und die umstrittene Gaspipeline Nordstream 2. Und natürlich um die Szene zu Beginn des Besuchs.
Auf die Reporterfrage, ob sich die Bürger Gedanken über ihren Gesundheitszustand machen müssten, gibt sich die Kanzlerin entspannt. «Ich hab' inzwischen mindestens drei Gläser Wasser getrunken, das hat offensichtlich gefehlt. Und insofern geht es mir sehr gut», versucht Merkel die Öffentlichkeit zu beruhigen. Auch Selenskyj beschwichtigt: «Was Frau Merkel anbelangt, so stand ich neben ihr. Und glauben Sie mir: Sie war in voller Sicherheit», übersetzt die Dolmetscherin.
Es ist der Eisbrecher bei der ersten Begegnung von Merkel und Selenskyj, für das es keine guten Vorzeichen gab. Der frühere Komiker hat Mitte Mai Petro Poroschenko als Staatsoberhaupt abgelöst. Im ukrainischen Wahlkampf war Merkel Parteinahme für Poroschenko vorgeworfen worden, weil sie ihn eine Woche vor der Stichwahl in Berlin empfangen hatte, Selenskyj aber nicht. Aber auch dieses Problem räumt Selenskyj aus: «Das ist ja ihre Angelegenheit, ich verstehe das so, dass das normal ist. Aber auf höchster Ebene trifft sich Frau Bundeskanzlerin heute mit dem Präsidenten der Ukraine.»
Doch für die politischen Inhalte des Antrittsbesuchs interessiert sich in Deutschland nach dem Zitteranfall der Kanzlerin kaum jemand so richtig. Hat die Kanzlerin womöglich in ihrer letzten Amtszeit gesundheitliche Probleme? Hat sie sich in den vergangenen Jahrzehnten zuviel zugemutet, fragen sich viele, die ihr fast unmenschliches Arbeitspensum kennen.
Mediziner sind mit einer Ferndiagnose zwar zurückhaltend. Mehrere Ärzte sehen aber keinen Hinweis auf ein ernsteres medizinisches Problem der Kanzlerin. Es sei nicht unplausibel, dass Merkels Zittern auf einen Flüssigkeitsmangel zurückgeführt werden könne, sagt etwa Alexander Schultze, stellvertretender Leiter der Notaufnahme am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Aus medizinischer Sicht sei das Zittern an sich nicht alarmierend, ein Flüssigkeitsmangel bei diesem Wetter nicht untypisch. Die Information, dass es der Kanzlerin nach drei Gläsern Wasser wieder besser ging, könne durchaus ein Hinweis darauf sein, dass es sich um ein kurzzeitiges Kreislaufproblem gehandelt habe, sagt Schultze.
Auch der Allgemeinmediziner Jakob Berger, Bezirksvorsitzender des bayerischen Hausärzteverbandes, sieht in dem Vorfall noch keinen Grund zur Beunruhigung. «Gewundert habe ich mich schon», sagt er Focus Online. «Aber eher, weil Frau Merkel sonst immer so stabil wirkt.» Dass hinter dem starken Zittern eine ernsthafte Krankheit stecken könnte, schloss der Mediziner aus: «Dafür war es zu kurz.» Er ergänzt: «Sie konnte ja schon direkt nach der Nationalhymne ganz normal mit dem ukrainischen Präsidenten weiterlaufen.»
Ein Wassermangel hält auch Berger angesichts der Hitze in Berlin für die wahrscheinlichste Ursache. «Und eine Frau wie Angela Merkel hat zusätzlich sicherlich einen eher stressigen Lebenswandel.» Das begünstige einen Elektolyt-Verlust im Körper. Und der könne wiederum zu unkontrollierten Zuckungen und Zittern führen.
Ein Berliner Neurologe, der ungenannt bleiben wollte, sagte: «Das sieht aus wie ein Kreislaufproblem.» Dies sei mit Abstand die wahrscheinlichste Ursache für Merkels Zittern.
Russische Medien schlachten den Zitteranfall von Merkel teilweise mit hämischem Unterton aus. Das Staatsfernsehen veröffentlicht einen Videoclip unter dem Titel: «Beim Treffen mit Selenskyj fing Merkel an zu zittern.» Das kremlnahe Klatschportal life.ru schreibt zum Clip: «Merkel bebte beim Treffen mit Selenskyj wie nach einem Stromschlag.» Als dagegen der russische Präsident Wladimir Putin kürzlich nach einem Eishockey-Spiel über einen roten Teppich in der Arena stolperte und frontal auf den Boden klatschte, zeigten das russische Staatsmedien nicht. (sda/dpa)