Fast klammheimlich macht Olaf Scholz im Kanzlerrennen Boden gut. Die jüngste Umfrage von diesem Freitag wird dem 63-jährigen Vizekanzler und Finanzminister gefallen. 59 Prozent der Wählerinnen und Wähler trauen dem Hamburger das Kanzleramt zu.
CDU-Chef Armin Laschet attestieren gerade mal 28 Prozent die Fähigkeit zum höchsten Regierungsamt im Land. Und der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, im April mit hohen Ambitionen ins Rennen gestiegen, gerade noch 23 Prozent. Auch bei der Frage, wen die Deutschen am liebsten als Merkel-Nachfolger sähen, liegt Scholz mit klarem Vorsprung vor Laschet und Baerbock an erster Stelle.
Hievt sich da einer fast unbemerkt von Grünen und Union und im Windschatten seiner Kontrahenten ins Kanzleramt? Abwegig ist das Szenario nicht, dass Deutschland nach 16 Jahren Merkel demnächst von einem Sozialdemokraten geführt wird. Trotz der Schwäche der Genossen.
Die Geschichte hat gezeigt: Nicht immer stellt die Partei, die bei den Wahlen die meisten Stimmen auf sich vereint, auch automatisch den Regierungschef. Im Herbst 1976 gewann die Union die Wahlen auf eindrückliche Art und Weise. Kanzler wurde mit Helmut Schmidt aber der Kandidat der SPD, der mit der FDP die sozialliberale Koalition fortführte.
Die Genossen, noch vor wenigen Monaten mit Zustimmungswerten von kümmerlichen 14 Prozent auf dem Weg zur Kleinpartei, profitieren von der Beliebtheit ihres Kanzlerkandidaten. Nun hat die SPD auf 19 Prozent zugelegt und ist gleichauf mit den Grünen auf Rang zwei hinter der Union. Legen die Sozialdemokraten im Wahlkampf-Endspurt noch zwei, drei Prozentpunkte zu und überholen die Ökopartei, würde es ziemlich sicher zu einem Dreierbündnis an der Union vorbei mit Olaf Scholz im Kanzleramt reichen: Eine rote Ampel aus SPD, Grünen und der erstarkten FDP.
Die «Ampel» - auch eine von Annalena Baerbock angeführte - dürfte für die Genossen der einzige akzeptable Weg in eine nächste Regierung sein. Eine Grosse Koalition mit der Union wird es kaum mehr geben, für eine «Deutschland-Koalition» mit Union und FDP müssten sich die Genossen inhaltlich derart verbiegen, dass ihnen ein solches Bündnis womöglich endgültig den Todesstoss verpassen würde. Ein linksgrünes Bündnis mit Grünen, Linkspartei und der SPD scheint ausgeschlossen, wenn auch rechnerisch möglich. Eine solche Koalition scheitert an der Regierungsfähigkeit der Linken und an inhaltlichen Diskrepanzen wie etwa in der Frage der Bundeswehreinsätze im Ausland.
Scholz profitiert auch von der Schwäche seiner Kontrahenten. Unions-Kandidat Laschet führt einen faden Wahlkampf, sein Wahlprogramm birgt nichts Überraschendes. Annalena Baerbock legte nach fulminantem Start einen pannenreichen Wahlkampf mit Plagiats-Vorwürfen und aufgehübschtem Lebenslauf hin. Zudem richtet sie sich im Wahlkampf immer stärker an die klassische Grünen-Klientel und kann bei nicht typischen Grünen-Wählern dadurch kaum punkten.
Auch Scholz, der für seinen Politstil ohne Kanten von Medien den wenig schmeichelhaften Beinamen «Scholzomat» verpasst bekommen hat, zieht keine Energie aus besonders mutigen und visionären Ideen. Seine Forderung nach Mindestlohn, Klimaneutralität bis 2045 und höheren Steuern für Superreiche sind bei einem SPD-Kandidaten erwartbar.
Doch Scholz hat einen entscheidenden Vorteil: Den Amtsbonus. Er ist zwar nicht amtierender Kanzler, aber immerhin ein mit reichlich Regierungserfahrung ausgestatteter Vize-Kanzler. Damit übertrumpft er die politisch unerfahrene Baerbock. Auch Laschet, der zwar Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen ist, aber nicht in der aktuellen Regierung sitzt.
Anders als bei Laschet und Baerbock, steht Scholz auch nicht ständig in der öffentlichen Kritik. Die Partei wirkt geschlossen, obwohl sie von dem weiter links als Scholz agierenden Duos Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken geführt wird. Doch die Vorsitzenden halten sich zurück und überlassen ihrem Kandidaten ohne Störfeuer die Bühne.
Auch politisch erntet Scholz in der Öffentlichkeit selten Haue. In der Corona-Krise hat der Finanzminister die Staatskasse rasch für Milliarden schwere Hilfspakete geöffnet. Dass Scholz als Finanzminister zumindest eine politische Mitverantwortung dafür tragen könnte, dass die Bilanzfälschungen beim Finanzdienstleister Wirecard über Jahre nicht aufgedeckt werden konnten und dass seine Rolle auch in einem Skandal um Steuerbetrügereien im Aktien-Geschäft (Cum-Ex-Skandal) als umstritten gilt, schadet dem gebürtigen Osnabrücker kaum.
Zu technisch und zu undurchsichtig für Laien sind die Hintergründe der Finanzskandale. Da schaden Lappalien wie frisierte Lebensläufe – wo gleich alle wissen, um was es geht – mehr, als eine mögliche Mitverantwortung für nicht rechtzeitig aufgedeckte Milliarden-Skandale.
Als Scholz im Frühjahr zum Kanzlerkandidaten ausgerufen wurde und seine Partei bei etwa 15 Prozent Wähleranteil dümpelte, lächelte Scholz und meinte: «Im September werden wir sehen: Es hat geklappt». Damals klang der Satz weltfremd. Inzwischen ist ein Kanzler Scholz durchaus möglich.