Bei seiner zweiten Nahost-Reise seit Beginn des Gaza-Kriegs hat Bundeskanzler Olaf Scholz eindringlich eine Waffenruhe gefordert. «Es ist ganz klar, dass wir jetzt alles dafür tun müssen, dass die Situation nicht noch schlimmer wird als sie ist», sagte der SPD-Politiker am Sonntag nach einem Gespräch mit dem jordanischen König Abdullah in Akaba mit Blick auf eine mögliche israelische Bodenoffensive im Süden des Gazastreifens. «Ich glaube, dass eine grosse Zahl von Opfern bei einer solchen Offensive jede friedliche Entwicklung dann sehr schwer machen würde. Das wissen auch viele in Israel.»
In Israel wollte Scholz am Sonntag mit Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu sprechen. Dieser machte unmittelbar davor klar, dass er an einem Militäreinsatz in Rafah an der Grenze zu Ägypten festhalte und ein Ende des Gaza-Krieges vor Erreichen aller israelischen Ziele entschieden ablehne. «Wenn wir den Krieg jetzt beenden, bevor seine Ziele erreicht sind, bedeutet dies, dass Israel den Krieg verloren hat», sagte der Regierungschef. Dies werde man nicht zulassen.
Neben Netanjahu wollte Scholz auch mit Präsident Izchak Herzog, Minister Benny Gantz sowie Angehörigen von Geiseln sprechen. Der Gaza-Krieg war am 7. Oktober durch einen Terrorangriff der palästinensischen Hamas auf Israel ausgelöst worden. Israel will die Zerstörung der Hamas erreichen und die Geiseln aus der Gewalt der Terrororganisation befreien. Man geht davon aus, dass noch rund 100 von ihnen am Leben sind.
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Scholz war zehn Tage nach dem Hamas-Angriff erstmals nach Israel gereist, um dem Land die deutsche Solidarität zu versichern. «Die Sicherheit Israels und seiner Bürgerinnen und Bürger ist deutsche Staatsräson», sagte er damals. «Unsere aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung macht es uns zu unserer Aufgabe, für die Existenz und die Sicherheit des Staates Israel einzustehen.»
Mit Kritik an der israelischen Militäroperation gegen die Hamas, bei der nach Angaben der Gesundheitsbehörde der Hamas Zehntausende Menschen getötet worden sind, hat sich Scholz auch aus der deutschen Staatsräson heraus bis heute im Gegensatz zu anderen Verbündeten sehr zurückgehalten. Das wird in der arabischen Welt kritisch verfolgt. Scholz' Mahnungen sind allerdings Schritt für Schritt deutlicher geworden. Inwieweit er bereit ist, Netanjahu bei dem Gespräch in Jerusalem unter Druck zu setzen, blieb vor dem Treffen aber unklar.
Der israelische Ministerpräsident hatte am Freitag die umstrittene Bodenoffensive in Rafah im Süden des Gazastreifens genehmigt. Dort suchen derzeit nach Schätzungen 1,5 Millionen Palästinenser auf engstem Raum und unter elenden Bedingungen Schutz vor den Kämpfen in den anderen Gebieten des Gazastreifens. Hilfsorganisationen warnen vor vielen weiteren zivilen Toten.
Es dürfe nicht dazu kommen, «dass jetzt viele, die in Gaza nach Rafah geflohen sind, unmittelbar bedroht sind» von militärischen Handlungen, mahnte Scholz. «Deshalb habe ich genauso wie der amerikanische Präsident sehr deutlich gemacht, dass wir finden, dass das jetzt hier etwas ist, wo man sehr, sehr, sehr sorgfältig alles tun muss, um weitere grosse Opferzahlen zu vermeiden.»
Mit Blick auf eine geplante Wiederaufnahme indirekter Verhandlungen über eine vorläufige Waffenruhe sagte Scholz: «Für mich ist ganz klar, dass es jetzt auch darum geht, die Möglichkeit zu konkretisieren, die sich in den bestehenden Gesprächen zeigt, zu einem Waffenstillstand, der länger hält, zu kommen.»
Örtlichen Medienberichten zufolge wollte Israels Kriegskabinett noch am Sonntag mit Netanjahu zusammenkommen, um über die Entsendung einer Delegation nach Katar zu entscheiden. Dort sollen in der Hauptstadt Doha die zuletzt ins Stocken geratenen Gespräche über eine Waffenruhe weitergehen, nachdem die islamistische Hamas den Vermittlern einen neuen Vorschlag vorgelegt hatte.
Während Scholz in Akaba den jordanischen König traf, bereitete die Luftwaffe knapp 400 Kilometer entfernt auf der «King Abdullah Airbase» in der Nähe der Hauptstadt Amman weitere Hilfsflüge vor. Damit beteiligt sich Deutschland an der jordanischen Initiative einer Luftbrücke für den Gazastreifen. Nachdem am Samstag die erste Lieferung von vier Tonnen Lebensmitteln - unter anderem Reis und Mehl - aus einem Transportflugzeug an Fallschirmen über dem Norden des Palästinensergebietes abgesetzt wurde, erfolgte am Sonntag der zweite Hilfsflug. Auch mehrere andere Staaten hatten Transportflugzeuge im Einsatz.
Einen Tag vor dem Kanzlerbesuch hatten Tausende Menschen in Tel Aviv und anderen israelischen Städten für die Freilassung von Geiseln aus der Gewalt der Hamas und gegen die Regierung von Ministerpräsident Netanjahu demonstriert. Mancherorts legten Menschen kleinere Feuer, zündeten Rauchbomben und forderten in Sprechchören die Freilassung der Geiseln. Um einzelne Ansammlungen aufzulösen, setzte die Polizei Wasserwerfer ein. Angehörige der Geiseln forderten ein neues Abkommen für die Freilassung und riefen die Regierung zu schnellem Handeln auf. «Sie haben keine Zeit mehr, wir haben keine Zeit mehr. Macht etwas jetzt, wir brauchen euch!», sagte eine Angehörige bei einer Kundgebung. (sda/dpa)