NGO warnt vor Corona-Folgen: «Regierungen mit neuen Mitteln zur Kontrolle der Menschen»
Patriot Act, biometrische Pässe, NSA-Skandal: Der 11. September 2001 war eine Art Urknall der modernen Massenüberwachung. Nun warnen Forscher der US-Nichtregierungsorganisation Freedom House eindringlich: Dieses Szenario könnte sich wiederholen.
Adrian Shabaz, Co-Autor des Berichts Freedom of the Net 2020, sagt:
Regierungen weltweit benutzten die Corona-Pandemie als Vorwand, um die Massenüberwachung im Internet, das Sammeln von Daten, die Zensur kritischer Stimmen und den Einsatz neuer technologischer Mittel zur sozialen Kontrolle voranzutreiben, heisst es in der Studie. Der Rückgang der Freiheit im Internet sei dramatisch beschleunigt worden.
65 Länder, darunter Staaten wie die USA, China, Russland und Indien (in denen 87 Prozent aller Internetnutzer weltweit leben) haben die Forscher untersucht. In 54 davon werden Apps angewendet zwecks Contact Tracing oder der Durchsetzung von Quarantäne-Massnahmen.
Immer weniger Freiheit im Netz
Aber in nur wenigen Nationen kenne man effektive Massnahmen zum Schutz sensibler Daten vor dem Missbrauch durch Staat und Private. Lediglich einzelne Apps genügten Datenschutz-Anforderungen – genannt wird im Bericht die App «Hoia» aus Estland. Sie ist quelloffen und dezentralisiert, wie auch die Swisscovid-App.
Zum zehnten Mal in Folge habe die «Freiheit des Internets» abgenommen. Was bedeutet das?
- In 28 Ländern zensierten Behörden unabhängige Berichterstattung.
- In 45 Ländern wurden Menschen festgenommen, nachdem sie sich kritisch zu staatlichen Massnahmen geäussert hatten. Darunter auch Journalisten.
- In mindestens 20 Nationen diente die Gesundheitskrise als behördliche Rechtfertigung für die Einschränkung der freien Meinungsäusserung.
- In 13 Ländern gab es Internet-Shutdowns. Meist mit dem Fokus, gewisse Bevölkerungsgruppen von lebenswichtigen Informationen abzuschneiden. Ein Form der Kollektivbestrafung.
- In mindestens 30 Ländern wurden weitere Pflöcke in der Massenüberwachung eingeschlagen, meist in direkter Zusammenarbeit mit Telekommunikationsanbietern.
Die Autoren der Studie zeichnen ein düsteres Bild. Aus dem ganzen Wust an problematischen Entwicklungen haben sie drei Grundtendenzen identifiziert und herausgeschält.
1. Blockaden und Online-Zensur
2. Mehr Überwachung, keine Kontrolle
3. Staaten igeln sich ein und bedrohen Geist des Internets
Den dritten Punkt konkretisieren die Forscher: Die russischen Behörden hätten sich selber die Legitimation verschafft, das Land im Falle eines nationalen Notstands vom Internet abzukoppeln. Der Iran blockiere Verbindungen ins Ausland, um repressives Vorgehen der Polizei bei grossen Protesten unter dem Deckel halten zu können.
Und die Regierungen der USA und Indien hätten jüngst erst das Verbot chinesischer Apps (wie Tiktok oder WeChat) vollzogen. Chinesische Offizielle ihrerseits hausieren ganz offen mit der Haltung, dass jedes Land selber für sein eigenes, «nationales Internet» zuständig sei.
Digitaler Autoritarismus
Von dieser Haltung, heisst es in der Studie weiter, zeuge auch der kompromisslose Umgang der chinesischen Regierung mit dem Coronavirus. Mit einer Mischung als altbewährten Ansätzen und High-Tech-Mitteln würden Bürgerrechte eingeschränkt. Im Netz gehe Peking gegen das Verbreiten von Informationen aus unabhängigen Quellen vor, die das offizielle Narrativ unterminierten. Die kommunistische Partei normalisiere in der Pandemie ihre Auslegung eines digitalen Autoritarismus.
Dass das Thema «Cyber-Souveränität» ein durchaus zweischneidiges Schwert ist, zeigt der Beschluss des Europäischen Gerichtshofs im Juli. Das Gericht kippte eine Entscheidung der EU-Kommission und blockierte teilweise den Datenabfluss von EU-Bürgern in die USA. Das ist zwar im Sinne vieler Datenschützer, wird im Bericht aber vor diesem Hintergrund kritisch beäugt.
China als Mahnmal
Und es gibt auch positive Nachrichten: Länder wie der Sudan, Zimbabwe oder die Ukraine haben den Grad der Internetfreiheit erhöht. Klassenprimus ist erneut Island. Aber es sind nur Strohfeuer.
China belegt den Tabellenschlussrang. Den Forschern dienen die dortigen Behörden mit ihrem eisernen Griff als Menetekel.
Sie warnen: «Die Pandemie beschleunigt die gesellschaftliche Abhängigkeit von digitalen Technologien. Und das just in einer Zeit, in der das Internet immer weniger frei ist. Die Corona-Pandemie legt das Fundament für den zukünftigen Überwachungsstaat. Die Gefahren, die von Künstlicher Intelligenz ausgeht, was Freiheit und Demokratie anbelangt, sind schlichtweg zu schlimm, als dass man sie ignorieren könnte.»
Internet-Aktivist und Whistleblower Edward Snowden und Politaktivistin und Journalistin Naomi Klein im Gespräch über Überwachung im Corona-Zeitalter:
Die iranisch-britische Schauspielerin Nazanin Boniadi («HIMYM», «Homeland») im Gespräch über den Iran, Menschenrechte, Migration, Feminismus:
(tat)