
Sein Fall ist exemplarisch: Der kanadische Pfarrer David Lah sass in Myanmar drei Monate im Knast – das Land agiert in der Corona-Krise zunehmend mit Repression. Und ist kein Einzelfall.Bild: EPA
25.10.2020, 22:4525.10.2020, 22:45
Patriot Act, biometrische Pässe, NSA-Skandal: Der 11. September 2001 war eine Art Urknall der modernen Massenüberwachung. Nun warnen Forscher der US-Nichtregierungsorganisation Freedom House eindringlich: Dieses Szenario könnte sich wiederholen.
Adrian Shabaz, Co-Autor des Berichts Freedom of the Net 2020, sagt:
«Wir werden auf Covid-19 zurückblicken wie auf den 11. September: Regierungen erlangten neue, aggressive Mittel zur Kontrolle der Menschen.»
adrian shabaz, freedom house
Regierungen weltweit benutzten die Corona-Pandemie als Vorwand, um die Massenüberwachung im Internet, das Sammeln von Daten, die Zensur kritischer Stimmen und den Einsatz neuer technologischer Mittel zur sozialen Kontrolle voranzutreiben, heisst es in der Studie. Der Rückgang der Freiheit im Internet sei dramatisch beschleunigt worden.
«Die Geschichte zeigt: Technologien und Gesetze, die in Krisenzeiten eingeführt werden, sind oft gekommen, um zu bleiben.»
adrian shabaz, freedom house
65 Länder, darunter Staaten wie die USA, China, Russland und Indien (in denen 87 Prozent aller Internetnutzer weltweit leben) haben die Forscher untersucht. In 54 davon werden Apps angewendet zwecks Contact Tracing oder der Durchsetzung von Quarantäne-Massnahmen.
Immer weniger Freiheit im Netz
Aber in nur wenigen Nationen kenne man effektive Massnahmen zum Schutz sensibler Daten vor dem Missbrauch durch Staat und Private. Lediglich einzelne Apps genügten Datenschutz-Anforderungen – genannt wird im Bericht die App «Hoia» aus Estland. Sie ist quelloffen und dezentralisiert, wie auch die Swisscovid-App.

Auch das ist Teil des Problems: Länder wie die USA oder Indien haben jüngst den Download chinesischer Apps blockiert.Bild: keystone
Zum zehnten Mal in Folge habe die «Freiheit des Internets» abgenommen. Was bedeutet das?
- In 28 Ländern zensierten Behörden unabhängige Berichterstattung.
- In 45 Ländern wurden Menschen festgenommen, nachdem sie sich kritisch zu staatlichen Massnahmen geäussert hatten. Darunter auch Journalisten.
- In mindestens 20 Nationen diente die Gesundheitskrise als behördliche Rechtfertigung für die Einschränkung der freien Meinungsäusserung.
- In 13 Ländern gab es Internet-Shutdowns. Meist mit dem Fokus, gewisse Bevölkerungsgruppen von lebenswichtigen Informationen abzuschneiden. Ein Form der Kollektivbestrafung.
- In mindestens 30 Ländern wurden weitere Pflöcke in der Massenüberwachung eingeschlagen, meist in direkter Zusammenarbeit mit Telekommunikationsanbietern.
Die Autoren der Studie zeichnen ein düsteres Bild. Aus dem ganzen Wust an problematischen Entwicklungen haben sie drei Grundtendenzen identifiziert und herausgeschält.
1. Blockaden und Online-Zensur
«Politiker nutzen die Corona-Pandemie als Vorwand, um den Zugang zu Information zu beschränken. Behörden blockieren unabhängige Informationsquellen und lassen Menschen verhaften aufgrund falscher Vorwürfe, wonach diese Unwahrheiten verbreitet hätten. In Wahrheit haben vielerorts staatliche Akteure Desinformation verbreitet, um eigenes Versagen zu kaschieren oder um religiöse und ethnische Gruppen zum Sündenbock zu machen. Regierungen auf der ganzen Welt haben es verpasst, verlässliche öffentliche Räume im Internet zu schaffen.»
freedom of the net 2020
2. Mehr Überwachung, keine Kontrolle
«Mit Covid-19 rechtfertigen Behörden den Ausbau von Überwachung und den Einsatz neuer Technologien, die bis anhin als zu weitgehend galten. Intimste Daten von Menschen werden gesammelt und analysiert ohne adäquaten Schutz gegen Missbrauch. Regierungen, aber auch Private steigern den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI), biometrischer Überwachung und Big-Data-Tools, um damit Entscheide zu fällen, die die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rechte der Menschen beeinflussen. Es mangelt an Transparenz und unabhängiger Kontrolle. Das lässt dystopische Befürchtungen realistischer werden: Private Firmen, Geheimdienste und Cyber-Kriminelle wissen nicht mehr nur, was wir einkaufen und an welchen Orten wir uns aufhalten. Sondern kennen auch unsere Gesundheitsgeschichte, die Merkmale von Gesicht und Stimme und genetische Codes.»
freedom of the net 2020
3. Staaten igeln sich ein und bedrohen Geist des Internets
«Die Fragmentierung des Internets hat sich beschleunigt: Jeder Staat versucht mit eigenen Gesetzen eine Art Cyber-Souveränität zu erlangen. Mit der Folge, dass der Informationsfluss über Grenzen eingeschränkt wird. Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Regierungen rund um den Globus haben in der Vergangenheit gemeinsam über Sicherheitsstandards und wirtschaftliche Regeln befunden. Dies ermöglichte den Zugang von Milliarden von Menschen zu einem globalen Netzwerk von Informationen und Dienstleistungen mit unschätzbarem Wert für die menschliche Entwicklung – inklusive der Möglichkeit, mächtige Akteure haftbar zu machen.»
freedom of the net 2020
Den dritten Punkt konkretisieren die Forscher: Die russischen Behörden hätten sich selber die Legitimation verschafft, das Land im Falle eines nationalen Notstands vom Internet abzukoppeln. Der Iran blockiere Verbindungen ins Ausland, um repressives Vorgehen der Polizei bei grossen Protesten unter dem Deckel halten zu können.
Wer steckt dahinter?
Bekannt geworden ist Freedom House durch die alljährliche Publikationen zweier Berichte, des Freedom-of-the-Net-Berichts und des Freedom-of-the-Press-Reports. Beide finden weltweit Widerhall. Freedom House wurde 1941 als Reaktion auf den Aufstieg totalitärer Systeme gegründet. Mitgründerin war Menschenrechtsaktivistin Eleanore Roosevelt.
Und die Regierungen der USA und Indien hätten jüngst erst das Verbot chinesischer Apps (wie Tiktok oder WeChat) vollzogen. Chinesische Offizielle ihrerseits hausieren ganz offen mit der Haltung, dass jedes Land selber für sein eigenes, «nationales Internet» zuständig sei.
Digitaler Autoritarismus
Von dieser Haltung, heisst es in der Studie weiter, zeuge auch der kompromisslose Umgang der chinesischen Regierung mit dem Coronavirus. Mit einer Mischung als altbewährten Ansätzen und High-Tech-Mitteln würden Bürgerrechte eingeschränkt. Im Netz gehe Peking gegen das Verbreiten von Informationen aus unabhängigen Quellen vor, die das offizielle Narrativ unterminierten. Die kommunistische Partei normalisiere in der Pandemie ihre Auslegung eines digitalen Autoritarismus.
Dass das Thema «Cyber-Souveränität» ein durchaus zweischneidiges Schwert ist, zeigt der Beschluss des Europäischen Gerichtshofs im Juli. Das Gericht kippte eine Entscheidung der EU-Kommission und blockierte teilweise den Datenabfluss von EU-Bürgern in die USA. Das ist zwar im Sinne vieler Datenschützer, wird im Bericht aber vor diesem Hintergrund kritisch beäugt.
China als Mahnmal
Und es gibt auch positive Nachrichten: Länder wie der Sudan, Zimbabwe oder die Ukraine haben den Grad der Internetfreiheit erhöht. Klassenprimus ist erneut Island. Aber es sind nur Strohfeuer.
China belegt den Tabellenschlussrang. Den Forschern dienen die dortigen Behörden mit ihrem eisernen Griff als Menetekel.
Sie warnen: «Die Pandemie beschleunigt die gesellschaftliche Abhängigkeit von digitalen Technologien. Und das just in einer Zeit, in der das Internet immer weniger frei ist. Die Corona-Pandemie legt das Fundament für den zukünftigen Überwachungsstaat. Die Gefahren, die von Künstlicher Intelligenz ausgeht, was Freiheit und Demokratie anbelangt, sind schlichtweg zu schlimm, als dass man sie ignorieren könnte.»
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