Das Buch «Too Much and Never Enough» von Mary Trump beherrscht derzeit die US-Medien. Die 55-jährige Nichte des Präsidenten schildert darin, wie ihr Onkel zum «gefährlichsten Mann der Welt» wurde. In einer der unzähligen TV-Talkshows brachte der ehemalige Präsident der Grand Old Party, Michael Steele, die Wirkung dieses Buches auf den Punkt: «Manchmal kann Familie richtig sch… sein (family can be a bitch)», sagte er bei Ari Melber auf MSNBC.
Wir alle erleben gelegentlich, dass sich Schilderungen unserer Familienangehörigen nicht mit der eigenen Wahrnehmung decken. Doch was Donald Trump im Buch seiner Nichte um die Ohren geschlagen wird, übersteigt das Übliche bei weitem. Er wird als narzisstischer Soziopath beschrieben: geizig, humorlos und ohne jede Spur von Empathie für seine Mitmenschen.
Ein harter, ehrgeiziger Vater soll die Wurzel all dieses Übels gewesen sein. «Seine Persönlichkeit diente den Zielen seines Vaters», schreibt Mary Trump. «Das ist es, was Soziopathen tun: Sie vereinnahmen andere und benutzen sie für ihre Zwecke – effizient und ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Toleranz für andere Meinungen oder gar Widerstand.»
Mary Trump ist nicht nur ein Mitglied des Clans, sie ist auch eine versierte Psychologin samt Doktortitel. Das verleiht ihrem Buch zusätzlich Gewicht. Sie behauptet zwar nicht, die Psychologie des «stabilen Genies» – wie sich der amtierende Präsidenten selbst bezeichnet – aufschlüsseln zu können. Das sei schlicht unmöglich, denn:
Kein Wunder also, dass Trumps jüngerer Bruder Robert alle Hebel in Bewegung setzte, um die Veröffentlichung dieses Buches zu verhindern. Vergeblich. Die Journalisten der wichtigen US-Medien sind bereits im Besitz des 225 Seiten umfassenden Werkes. Gewöhnliche Sterbliche werden es nächste Woche kaufen können.
Die Wirkung der sogenannten Alles-auspacken-Bücher ist in der Regel beschränkt. Zudem sind über Trump inzwischen ganze Bibliotheken verfasst worden. Das Buch seiner Nichte wird dem Präsidenten trotzdem richtig weh tun, denn es erscheint zu einem Zeitpunkt, in dem er so angeschlagen ist wie noch nie.
Die Coronakrise hat gezeigt, dass Trump ein Kaiser ohne Kleider ist. Sein Versagen ist episch. Vor diesem Hintergrund bekommt die Aussage seiner Nichte, dass er als notorischer Lügner unfähig sei, eine Krise zu managen, grosses Gewicht. Sie schreibt:
Der junge Trump mag sich mit Tests, die er von klügeren Kollegen ausfüllen liess, in die prestigeträchtige Wharton University geschummelt haben, wie dies Mary Trump enthüllt – und das Weisse Haus energisch dementiert. Dem Virus ist mit solchen Tricks nicht beizukommen.
Mary Trump hat erstmals auch bestätigt, dass sie es war, die der «New York Times» Dokumente zur Verfügung gestellt hatte, die Grundlage für eine ausführliche Reportage über Trumps Finanzen waren. Die beteiligten Journalisten wurden dafür mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Dank diesen Dokumenten gelang es der «New York Times», zu beweisen, dass Trump von seinem Vater mehr als 400 Millionen Dollar geerbt hatte. Er selbst hatte stets behauptet, es seien höchstens ein paar Millionen Dollar gewesen, und er habe sein Immobilienimperium selbst aufgebaut.
Diese Aussagen könnten für Trump unangenehme Folgen haben. Mit einer krassen Unterbewertung der geerbten Immobilien hat er nicht nur die Familie seiner Nichte um ihr Erbe betrogen. Er hat auch Steuerbetrug in grossem Umfang betrieben.
Trumps Steuererklärung wird bald wieder in den Brennpunkt der politischen Auseinandersetzung geraten. Der Oberste Gerichtshof wird in den kommenden Tagen darüber entscheiden, ob die Deutsche Bank und verschiedene Treuhandbüros die entsprechenden Unterlagen herausrücken müssen oder nicht. Zudem hat der demokratische Herausforderer Joe Biden seine Steuererklärung bereits veröffentlicht.
Nicht aus Rache hat Mary Trump ihr Buch geschrieben. Es war die Sorge um ihr Land. Sie will mithelfen, dass ihr Onkel im kommenden November aus dem Amt gejagt wird. In der Nacht, als Donald Trump die Wahl gewann, tweetete sie: «Das ist die schlimmste Nacht meines Lebens. Wir werden uns dereinst harte Vorwürfe gefallen lassen müssen. Ich trauere um mein Land.»