«Ja, aber er ist doch viel zu alt.» Dieser Einwand folgt wie das Amen in der Kirche, wenn man über Joe Bidens Chancen in den kommenden Präsidentschaftswahlen diskutiert – und ich habe längst aufgehört, die entsprechenden Wortmeldungen in den Kommentarspalten zu beachten.
Ja, Biden ist 77 Jahre alt, und das ist nicht übersehbar. Er verheddert oft seine Sätze, bringt Geschichten durcheinander, ist nicht wirklich ein feuriger Redner. Doch er hat in den Vorwahlen mehr als 20, teils hervorragende und mit Ausnahme von Bernie Sanders erheblich jüngere Rivalen ausgestochen. Er führt derzeit in den Meinungsumfragen mit rund zehn Prozentpunkten vor dem amtierenden Präsidenten. Biden mag nicht mehr der Jüngste sein, aber er hat offensichtlich vieles richtig gemacht. Aber was?
Im Gegensatz zu Donald Trump mögen die Menschen Joe Biden. Er kommt aus einfachen Verhältnissen und kann mit einfachen Leuten umgehen. Vor allem hat er etwas, was Trump nie haben wird: Empathie.
Dahinter steht ein tragisches Schicksal. Biden hat seine erste Frau und seine Tochter bei einem Autounfall verloren. Vor fünf Jahren starb einer seiner Söhne an Krebs. Biden spricht darüber, rührend, aber ohne Pathos. Das kann mehr bedeuten als die geschliffenste Rede.
Auf die Frage eines jungen Reporters, was den Ausgang von Wahlen beeinflusse, antwortete der ehemalige britische Premierminister Harold MacMillan mit dem legendären Zitat: «Ereignisse, mein Junge, Ereignisse».
Die politischen Ereignisse haben es in den vergangenen Monaten gut gemeint mit Joe Biden. Ursprünglich wollte das Trump-Team ihn mit den Verstrickungen seines Sohnes Hunter in der Ukraine angreifen. Diesen Plan können sie spülen, genauso wie die Absicht, die Russland-Affäre mit umgekehrten Vorzeichen wieder aufleben zu lassen.
Das alles überragende und wohl matchentscheidende Ereignis ist die Coronakrise geworden – und da macht Trump eine miserable Figur. Das Virus stammt zwar aus China, das Versagen ist jedoch hausgemacht. Während es in Europa gelungen ist, die Infektionskurve zu glätten, steigt sie in den USA wieder an. In einzelnen Bundesstaaten wie Arizona, Texas oder Florida – alle republikanisch regiert – droht die Epidemie gar ausser Kontrolle zu geraten.
Das Versagen der Trump-Regierung hat den Amtsinhaber angreifbar gemacht bei einem zentralen Wählersegment: den weissen Alten. Selbst republikanischen Senioren scheint Biden vertrauenswürdiger zu sein als Trump. Sie fürchten, dass die Wirtschaft auf ihre Kosten vorschnell geöffnet worden ist.
Typisch die Aussage eines gewissen Patrick Mallon, 73, in der «New York Times»: «Die meisten der (infizierten) Jungen werden überleben, aber sie werden ihre Eltern und ihre Grosseltern anstecken – und, es tut mir leid, wir sind genauso wichtig wie die jüngere Generation.»
Biden hat Trumps Schwachpunkt erkannt und seine Strategie darauf ausgerichtet. Im Gegensatz zu Trump trägt er demonstrativ eine Maske, und im Gegensatz zu Trump verspricht er nicht, das Virus werde bald verschwinden, sondern er bereitet die Amerikaner auf eine schwierige Erholungsphase vor.
Eine boomende Wirtschaft hätte Trumps wichtigster Trumpf im Wahlkampf sein sollen. Nun steckt die US-Wirtschaft in der schlimmsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine rasche Erholung ist wenig wahrscheinlich geworden. «Wir sehen derzeit ein paar Dinge, die uns Sorgen bereiten und die darauf hindeuten, dass die Erholung holpriger ausfallen wird als erwartet», sagt Raphael Bostic, ein hoher Beamter der US-Notenbank, in der «Financial Times».
Einige dieser Dinge sind direkt auf die von Trump und der Grand Old Party forcierte, voreilige Aufhebung des Lockdowns zurückzuführen. Inzwischen müssen in einzelnen Gegenden einige der strengen Lockdown-Regeln wieder eingeführt werden.
Zudem läuft Ende Juli die Arbeitslosen-Unterstützung aus. Ebenso drohen Massenausweisungen aus Wohnungen, weil die Menschen ihre Mieten nicht mehr bezahlen können. Bisher hat die Trump-Regierung keine Antworten auf diese sozialpolitisch explosiven Probleme gefunden.
Biden werde es nie gelingen, den Enthusiasmus der Jungen zu wecken, ist ein oft gehörter Einwand. Doch mit diesem jugendlichen Enthusiasmus ist kein Blumentopf zu gewinnen. Das hat Bernie Sanders auf die schmerzhafte Art erfahren müssen. Als es galt, die Stimme abzugeben, waren die Jungen nicht da.
Zudem ist es ein weit verbreiteter Irrtum, zu glauben, dass Junge und Progressive die Wahlen entscheiden werden. Die «blaue Welle» bei den Midterms 2018 gab es tatsächlich. Doch nicht Progressive wie Alexandria Ocasio-Cortez waren dafür verantwortlich. Es waren Gemässigte, die in grosser Zahl republikanische Sitze im Abgeordnetenhaus erobert haben.
Um ihre Politik auch durchsetzen zu können, brauchen die Demokraten eine Mehrheit im Senat. Das bedeutet, dass es ihnen gelingen muss, in teils konservativen Gebieten republikanische Senatoren zu schlagen. Mit der Galionsfigur Biden haben sie eine realistische Chance, auch in Bundesstaaten wie Montana und Georgia zu punkten.
Ursprünglich ist Biden als eine Version von Obama 2.0 angetreten. Gelingt es, den Wüterich Trump aus dem Weissen Haus zu jagen, werde alles wieder wie früher und damit gut, so seine Botschaft noch vor Jahresfrist.
Corona und die Rassenunruhen haben das geändert. Biden tritt nun mit dem progressivsten Wahlprogramm an, das je ein Demokrat vorgelegt hat. Er will zwar keine Einheits-Krankenkasse, aber er will Obamacare – die Reform des Gesundheitswesens seines Vorgängers – weiter ausbauen und für alle erschwinglich machen. Er will auch keinen Green New Deal, aber er will, dass die USA spätestens 2050 kein CO2 mehr in die Atmosphäre blasen.
Biden müsse endlich aus seinem Bunker treten und aktiver werden, monieren seine Kritiker. Das wird er auch bald. Doch derzeit verhält er sich sehr klug und handelt nach der Devise: Nimm keinem die Schaufel weg, der sein eigenes Grab gräbt.
Während Trump sich mit seinen immer offener rassistischen Tweets in immer grössere Schwierigkeiten bringt, bereitet Biden in Ruhe seinen Angriff in den kommenden Monaten vor. Er ist dabei auf gutem Weg, so gut, dass der ehemalige demokratische Wahlstratege James Carville lachend erklärt: «Diesmal können es nicht einmal wir verkacken.»
Die Demokraten haben einfach niemand besseren gefunden.