In den sozialen Medien kursieren seit Tagen Bilder und Videos von russischen Panzern, die beim Krieg in der Ukraine unfreiwillig die Seiten wechselten: Sie zeigen angeblich russische Militärfahrzeuge, die von ukrainischen Zivilistinnen und Zivilisten übernommen werden. Die unabhängige Überprüfung solcher Medien ist nicht immer möglich – schon allein wegen der schieren Menge solcher Videos.
Der niederländische Blog oryxspioenkop.com hat sich in den sozialen Medien als Sammelstelle solcher Meldungen etabliert. Ein Tweet sorgte dabei für besonders grosse Aufmerksamkeit: «Das ist Igor. Jeden Morgen macht Igor einen Spaziergang durch den nahe gelegenen Wald. Heute hat Igor ein 9K330-Tor-SAM-System der russischen Armee gefunden, das im Wald zurückgelassen wurde. Jetzt besitzt Igor ein SAM-System im Wert von 20 Millionen Dollar. Herzlichen Glückwunsch, Igor.»
This is Igor.
— Oryx (@oryxspioenkop) March 10, 2022
Every morning Igor goes for a stroll through the nearby forest.
Today, Igor found a Russian Army 9K330 Tor SAM system abandoned in the forest.
Now Igor owns a $20 million SAM system.
Congratulations Igor. pic.twitter.com/5pyyFTKqCP
Der Tweet zählte bis am Samstagabend über 22'000 Retweets und über 150'000 Likes. Der Tenor dabei lässt sich mit einem Hashtag und Emoji zusammenfassen: #BeLikeIgor 😂. Die Geschichte des angeblich erbeuteten Flugabwehr-Systems landete zeitweise gar auf Wikipedia: Ein User, der es besonders witzig fand, fügte den unbekannten Igor in die Liste der aktuellen Betreiber eines Kurzstrecken-Flugabwehrraketen-Systems des Typs 9K330 Tor.
Die Bearbeitung verschwand zwar bald und führte zu einer Sperrung des englischsprachigen Wikipedia-Artikels. Was wiederum zu einer längeren Diskussion unter Wikipedianerinnen und Wikipedianern führte: «Ich verstehe nicht, was gegen die Aufnahme von Igor unter den derzeitigen Betreibern spricht», ärgerte sich ein User. Eigentlich nichts, meinte ein anderer – es brauche aber eine «andere Quelle als Twitter». Zudem sei nicht bestätigt, ob das System funktionsfähig ist oder nicht.
Was auch das Problem aus journalistischer Sicht ist: Es gab bis am Samstagabend keine zweite Quelle für die Behauptung, dass irgendein Igor beim Spaziergang ein 20 Millionen US-Dollar teures Militärfahrzeug annektieren konnte. Es gibt den einen Tweet des Accounts Oryx und eine höher aufgelöste Version des Fotos aus derselben Quelle. Dieses Bild zirkulierte auf mehreren Reddit-Foren, in Telegram-Chats und auf weiteren Twitter-Accounts – ohne, dass eine zweite, von Oryx unabhängige Quelle vorlag.
Das muss aus Faktensicht nichts heissen: Es ist möglich, dass die Blogger aus einer direkten Quelle an die Informationen kamen. Die Macher der Webseite – namentlich die beiden Herren Stijn Mitzer, Joost Oliemans sowie mehrere «Mitarbeiter» – sammeln seit Tagen minutiös jeden Equipment-Verlust der Kriegsparteien und belegen dies mit Video- und Bildmaterial. Am Samstagabend zählte ihre Liste über 1130 Materialverluste auf russischer Seite, davon seien 172 aufgegeben bzw. 476 erbeutet worden. Unterstützt werden Mitzer und Oliemans von einer rege genutzten Kommentarfunktion.
Die beiden Niederländer Mitzer und Oliemans gelten als Militärexperten und veröffentlichten 2020 ein Buch über die nordkoreanische Volksarmee. Mitzer arbeitete in der Vergangenheit mit dem international agierenden Recherche-Netzwerk Bellingcat zusammen. Rerchercheanfragen von anderen Journalistinnen und Journalisten, darunter von watson, blieben zunächst unbeantwortet. Auf dem Twitter-Account der Blogger hiess es später, dass sie dafür keine Zeit hätten.
Damit bleibt aus der Sicht einer unabhängigen Faktenprüfung unklar, ob es diesen Igor gab, ob er tatsächlich das Kurzstrecken-Flugabwehrraketen-System erbeutete. Der Beitrag mit dem Spruch «Das ist Igor» stammte zwar von namentlich bekannten Bloggern, die seit Jahren mit glaubwürdigen Medien zusammenarbeiten. Ohne eine Prüfung von Drittpersonen oder weitere Informationen ist die Geschichte von Igor und dem 9K330 Tor aber unbelegt.
sind bauern weniger wert als zivilisten ?