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Faktencheck zu Ukraine-Krieg: Igor und das 9K330 Tor

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«Das ist Igor. Ihm gehört jetzt ein 20 Mio. Dollar teures Flugabwehr-System der Russen»

Der virale Twitter-Post über Igor und das Flugabwehr-System 9K330 Tor zeigt, wie schwierig Faktenprüfung im Ukraine-Krieg ist.
12.03.2022, 20:1914.03.2022, 11:22
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In den sozialen Medien kursieren seit Tagen Bilder und Videos von russischen Panzern, die beim Krieg in der Ukraine unfreiwillig die Seiten wechselten: Sie zeigen angeblich russische Militärfahrzeuge, die von ukrainischen Zivilistinnen und Zivilisten übernommen werden. Die unabhängige Überprüfung solcher Medien ist nicht immer möglich – schon allein wegen der schieren Menge solcher Videos.

Der niederländische Blog oryxspioenkop.com hat sich in den sozialen Medien als Sammelstelle solcher Meldungen etabliert. Ein Tweet sorgte dabei für besonders grosse Aufmerksamkeit: «Das ist Igor. Jeden Morgen macht Igor einen Spaziergang durch den nahe gelegenen Wald. Heute hat Igor ein 9K330-Tor-SAM-System der russischen Armee gefunden, das im Wald zurückgelassen wurde. Jetzt besitzt Igor ein SAM-System im Wert von 20 Millionen Dollar. Herzlichen Glückwunsch, Igor.»

Der Tweet zählte bis am Samstagabend über 22'000 Retweets und über 150'000 Likes. Der Tenor dabei lässt sich mit einem Hashtag und Emoji zusammenfassen: #BeLikeIgor 😂. Die Geschichte des angeblich erbeuteten Flugabwehr-Systems landete zeitweise gar auf Wikipedia: Ein User, der es besonders witzig fand, fügte den unbekannten Igor in die Liste der aktuellen Betreiber eines Kurzstrecken-Flugabwehrraketen-Systems des Typs 9K330 Tor.

«Das ist Igor. Ihm gehört jetzt ein 20-Mio-teures Flugabwehr-System der Russen»\nIch feier solche Tweets aus der Ukraine als das was sie sind, Shitposts in einem Medienkrieg. Schon die Form wie's ...
«Igor aus der Ukraine» wurde im englischsprachigen Wikipedia-Artikel als 9K330-Tor-Betreiber aufgelistet. Screenshot

Edit-War auf Wikipedia

Die Bearbeitung verschwand zwar bald und führte zu einer Sperrung des englischsprachigen Wikipedia-Artikels. Was wiederum zu einer längeren Diskussion unter Wikipedianerinnen und Wikipedianern führte: «Ich verstehe nicht, was gegen die Aufnahme von Igor unter den derzeitigen Betreibern spricht», ärgerte sich ein User. Eigentlich nichts, meinte ein anderer – es brauche aber eine «andere Quelle als Twitter». Zudem sei nicht bestätigt, ob das System funktionsfähig ist oder nicht.

Was auch das Problem aus journalistischer Sicht ist: Es gab bis am Samstagabend keine zweite Quelle für die Behauptung, dass irgendein Igor beim Spaziergang ein 20 Millionen US-Dollar teures Militärfahrzeug annektieren konnte. Es gibt den einen Tweet des Accounts Oryx und eine höher aufgelöste Version des Fotos aus derselben Quelle. Dieses Bild zirkulierte auf mehreren Reddit-Foren, in Telegram-Chats und auf weiteren Twitter-Accounts – ohne, dass eine zweite, von Oryx unabhängige Quelle vorlag.

Das muss aus Faktensicht nichts heissen: Es ist möglich, dass die Blogger aus einer direkten Quelle an die Informationen kamen. Die Macher der Webseite – namentlich die beiden Herren Stijn Mitzer, Joost Oliemans sowie mehrere «Mitarbeiter» – sammeln seit Tagen minutiös jeden Equipment-Verlust der Kriegsparteien und belegen dies mit Video- und Bildmaterial. Am Samstagabend zählte ihre Liste über 1130 Materialverluste auf russischer Seite, davon seien 172 aufgegeben bzw. 476 erbeutet worden. Unterstützt werden Mitzer und Oliemans von einer rege genutzten Kommentarfunktion.

Glaubwürdige Quelle, fehlende Belege

Die beiden Niederländer Mitzer und Oliemans gelten als Militärexperten und veröffentlichten 2020 ein Buch über die nordkoreanische Volksarmee. Mitzer arbeitete in der Vergangenheit mit dem international agierenden Recherche-Netzwerk Bellingcat zusammen. Rerchercheanfragen von anderen Journalistinnen und Journalisten, darunter von watson, blieben zunächst unbeantwortet. Auf dem Twitter-Account der Blogger hiess es später, dass sie dafür keine Zeit hätten.

Damit bleibt aus der Sicht einer unabhängigen Faktenprüfung unklar, ob es diesen Igor gab, ob er tatsächlich das Kurzstrecken-Flugabwehrraketen-System erbeutete. Der Beitrag mit dem Spruch «Das ist Igor» stammte zwar von namentlich bekannten Bloggern, die seit Jahren mit glaubwürdigen Medien zusammenarbeiten. Ohne eine Prüfung von Drittpersonen oder weitere Informationen ist die Geschichte von Igor und dem 9K330 Tor aber unbelegt.

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100 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Grave
12.03.2022 20:43registriert April 2015
zeigen angeblich russische Militärfahrzeuge, die von ukrainischen Zivilistinnen oder GAR BAUERN.

sind bauern weniger wert als zivilisten ?
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AllBugsFixed
12.03.2022 20:59registriert Juli 2020
Ist der Wahrheitsgehalt in diesen Fällen wirklich so relevant? Solche Nachrichten dürften in erster Linie dazu dienen, die Moral der Russen weiter zu drücken und (hoffentlich) die der Ukrainer zu heben.
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Tauri
12.03.2022 21:14registriert Oktober 2020
Da kann ja jeder kommen: einfach vorm Panzer hinstellen, selfie Abdrücken und behaupten: ich hab’s im Wald gefunden!😷🙈🤦🏻
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