Es war vor gut vier Jahren, am 12. September 2020, als Gisèle Pelicots erstes Leben zu Ende ging. Zuerst schien es nur absurd, gar lachhaft: Ihr Gatte Dominique, ein angegrauter Rentner mit Wohlstandsbäuchlein, wurde wie ein Schulbub ertappt, als er im Supermarkt den Frauen unter die Röcke filmte. Stunden später folgte der echte Schock, mit dem Gefühl eines freien Falls, der nie mehr endet.
Denn auf dem Handy des ehemaligen Elektrikers entdeckte die Polizei zahllose Videos von einer reglosen Frau, die von ihm, Dominique, und über 70 Unbekannten vergewaltigt wurde. Und die Frau, das war sie.
Unnötig zu sagen: Für Gisèle Pelicot stürzte die Welt ein. «Alles, was ich 50 Jahre lang aufgebaut hatte, brach zusammen», erzählte sie im September bei ihrer ersten Einvernahme vor dem Strafgericht in Avignon.
Die Folge ist bekannt. Frankreich, ja die halbe Welt entdeckte in den Nachrichten eine grazile Französin mit rotblondem Haar, die in dem modernen Gerichtsgebäude einem dicht sitzenden Pulk von 50 Angeklagten gegenübertrat und ihnen tapfer Paroli bot.
Die Verteidigerinnen der Gegenseite unterstellten ihr, sie müsse doch «etwas gemerkt haben». Gisèle Pelicot, die am 7. Dezember 72 geworden ist, antwortete konzentriert und sachlich. Nur einmal wurde sie wütend, als ihr eine Anwältin auch noch Exhibitionismus und Alkoholsucht anhängen wollte.
Ihren Mann, der auf der gegenüberliegenden Seite des Saales hinter Plexiglasscheiben sitzt, bezeichnete sie meist nur als «diesen Herrn». Kurz vor Prozessbeginn wurde die von ihr angestrengte Scheidung wirksam. Reichlich spät, tönte es von der Gegenseite. Dominique Pelicot hatte seine eigene Frau nicht nur (unter anderem mit massiven Temesta-Dosen) betäubt und missbraucht, sondern mehr als 200 Mal weitergereicht.
Als sie wegen einer Gebärmutterentzündung den Arzt aufsuchte, dieser aber keine Ursache fand, fragte Dominique Pelicot, um von seinen Untaten abzulenken, ob sie vielleicht einen Geliebten habe. So tief können menschliche Abgründe sein.
Gisèle Pelicot war die Normalität in Person, eine durchschnittliche Einwohnerin eines durchschnittlichen Vorortes von Paris. Dort verbrachte sie den Grossteil ihres Lebens. 1952 im deutschen Villingen geboren, hatte die Tochter eines französischen Militärs selber eine Tochter und zwei Söhne – Caroline, David, Florian; sie arbeitete wie ihr Mann im Stromkonzern Electricité de France (EDF), sie als Logistikerin der Nuklearsparte.
Nach der Pensionierung zog das Ehepaar Pelicot 2013 in den Süden, wo es im Provence-Ort Mazan in einem gemieteten Haus den Lebensabend verbringen wollte. Was sie nicht wusste: Schon zu jener Zeit wurde sie sediert und missbraucht. Der blanke, aber unsichtbare Horror.
Man hätte es verstanden, wenn Madame Pelicot dem dreimonatigen Prozess und einer Masse von 50 männlichen Angeklagten ferngeblieben wäre. Aber die ohne ihr Wissen geschundene Frau erschien seit September jeden Tag zur Gerichtsverhandlung, ausser montags, wenn sie ihre Psychotherapeutin aufsuchte.
Im Saal blieb sie stoisch, kaum je zeigte sie Gefühle. Sicher auch zu ihrem eigenen Schutz. Einmal gab sie einen kleinen Einblick in ihr Innenleben: «Ich weiss nicht, ob ich jemals verstehen werde, was mir passiert ist, was ich erlitten habe», sagte sie. «Ich bin eine total zerstörte Frau.» Eine, die man «wie einen Abfallsack» benützt habe.
Trotzdem wünschte Gisèle Pelicot, dass die Gerichtsverhandlung öffentlich sei. Sie bestand sogar gegen die Meinung des erfahrenen Gerichtspräsidenten darauf. Auch die scheusslichen Videos sollten auf den zwei hoch gehängten Bildschirmen im Saal gezeigt werden. «Damit das Schamgefühl die Seite wechselt», sagte sie zur Begründung.
Das programmatische Schlagwort ist so berühmt geworden wie ihr Graffiti mit Sonnenbrille und Pagenschnitt. Wenn sie das Gerichtsgebäude betritt oder verlässt, applaudieren ihr die vielen Zuschauerinnen. Die Aufmunterungen nimmt sie lächelnd und meist wortlos entgegen. Sie weiss, dass sie ständig gefilmt wird, und will sich keinen Patzer leisten. Ihr Mann sagte während der Verhandlung einmal, er kenne seine Frau besser als alle anderen; sie sei so, reserviert und zurückhaltend.
Wer in dem Saal war, staunte über den Kontrast: Während ihre Kinder in der Verhandlung bei ihren Einvernahmen weinten, schrien und gar aus dem Saal rannten, nachdem sie ihren Vater hinter dem Plexiglas als «Lügner» und «Teufel» tituliert hatten, blieb die Mutter meist ruhig und besonnen, zudem interessiert.
Wohl niemand im Saal vermochte zu sagen, was sie wirklich über ihren Mann denkt. Natürlich fühlt sie sich nach fünfzig Jahren Ehe von ihm verraten. Aber verabscheut sie ihn auch? Sie schweigt zu dieser Frage. Auch zur Frage, ob sie glaube, dass sich ihr Ex-Mann auch an ihrer Tochter vergangen habe, als sie noch ein Teenager war.
Die Verteidigerinnen der 50 Mitangeklagten werfen Gisèle vor, sie verschone ihren Ex-Mann. Nach 50 Jahren Zusammenleben stehe sie offensichtlich immer noch «unter seinem Einfluss». Gisèle Pelicot steckt auch das weg. Einige halten ihr Verhalten auch nach hundert Tagen Prozess für rätselhaft, andere sehen darin einen Ausdruck von Klasse und Contenance.
Links vom Gericht sitzend, macht sie jedenfalls eifrig Notizen. Irgendwann wird sie vielleicht alles zu Papier bringen. Dann wird sie erzählen, wie es aus ihrer Sicht war. Als über eine ganz normale Frau der Horror hereinbrach. (aargauerzeitung.ch)
Trotzdem: Sie sind keine zerstörte Frau. Sie sind Mutig! Ein Vorbild! Eine Ikone!
"Die Scham muss die Seiten wechseln"
Mit diesem Satz haben Sie mir und vermutlich auch anderen Frauen und Männern die Augen geöffnet. Früher hatte ich einfach nur Mitleid mit den Opfern, für das Sie sich vermutlich geschämt hätten
Heute habe ich ein besseres Bewusstsein für die Täter-Opfer-Dynamik. Natürlich habe ich weiterhin Mitleid mit den Opfern, aber sie haben bewiesen, dass es möglich ist, aus der Opferrolle herauszukommen und sich zu wehren!
Danke!