Betritt Gisèle Pelicot das Gerichtsgebäude, schreitet sie durch einen Gang applaudierender Menschen. Sie hört Zuspruch: «Courage!» – Mut – oder «Bravo!». Sie geht aufrecht, ihr Blick ist entschlossen, äusserlich wirkt sie ruhig. Die runde Sonnenbrille mit den getönten Gläsern hat sie bereits nach einigen Prozesswochen nicht mehr getragen.
Ihre Auftritte könnten in keinem grösseren Kontrast zu jenen der Angeklagten stehen. Diese huschen mit hochgezogenen Schultern in den Gerichtssaal. Einige versuchen, ihre Identität zu verbergen, indem sie ihre Gesichter hinter Masken, Sonnenbrillen und tief ins Gesicht gezogenen Käppis verstecken. Es ist offensichtlich, wer sich in diesem Prozess schämt.
Ihr Ziel formulierte Gisèle Pelicot gleich zu Beginn der Verhandlungen: «Die Scham muss die Seite wechseln.» Um das zu schaffen, entschied sie sich, das Intimste und Privateste öffentlich zu machen. Sie liess zu, dass selbst die entwürdigendsten Aufnahmen von ihr öffentlich gezeigt wurden.
Gisèle Pelicot ist das Opfer eines der grössten Sexualverbrechen in der jüngsten Geschichte. In dieser Woche wird das Urteil im Avignon-Prozess erwartet.
Über zehn Jahre hatte ihr damaliger Mann, Dominique Pelicot, sie regelmässig mit Medikamenten betäubt und fremde Männer eingeladen, sie zu vergewaltigen. Auch er verging sich regelmässig an ihr. Neben dem 72-jährigen Dominique Pelicot stehen 50 weitere Männer vor Gericht. Ihre Taten sind allesamt als Videos dokumentiert.
Jedes einzelne hat Gisèle Pelicot angeschaut. Sie entschied, dass der Prozess, anders als ursprünglich vorgesehen, nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden soll. Sie, die jahrelang wortwörtlich die Ohnmächtige war, holte sich die Kontrolle zurück. Dadurch wurde die Französin innert weniger Wochen zur Ikone. Rund um den Globus feiern Frauen sie als Heldin. In ihrer Heimat gibt es Gisèle-Graffitis oder «Wir alle sind Gisèle»-Demonstrationen.
Einige Stimmen sprechen gar von einem Epochenwechsel, einem Epochenwechsel der Scham. Nichts bringt einen effektiver zum Schweigen als dieses Gefühl. Es ist eine der schmerzhaftesten Emotionen überhaupt, weil dabei das Selbst verachtet wird.
Regine Munz arbeitet als Psychiatrieseelsorgerin und forscht als Theologin an der Universität Basel zur Scham. «Wer beschämt ist, möchte sich verbergen, verschwinden oder sich in letzter Konsequenz gar selbst auslöschen», sagt sie. Scham führe deshalb oft zu Gewalt und Aggressionen: Gegen sich selbst, indem Beschämte beispielsweise das Gefühl mit Alkohol, Drogen oder Selbstverletzungen kurzfristig betäuben. Oder gegen aussen – sprich, gegen andere Menschen.
Munz betont, dass die Scham viele Formen kennt. Sie sei aber an soziale Regeln und Normen gekoppelt. «Verschieben sich diese, ändert sich auch die Schamempfindlichkeit», sagt Munz. Scham ist folglich auch anerzogen, sie unterliegt gesellschaftlichen und kulturellen Konventionen. Genau an diesem Punkt setzt Gisèle Pelicot an: «Es gibt immer wieder Frauen, die zu mir kommen und sagen, sie würden meinen Mut bewundern. Ich antworte ihnen dann, das ist kein Mut, sondern Entschlossenheit. Und der Wille, eine gesellschaftliche Veränderung zu bewirken.»
Normen lassen sich verschieben. Das Gefühl der Scham an und für sich lässt sich indes nicht tilgen. Es ist uralt. Das zeigt ein Blick in die Bibel. Bereits in der Urgeschichte nimmt die Scham eine bedeutende Rolle ein. Sie führt zum Verstoss von Adam und Eva aus dem Paradies. So heisst es in der Bibel: «… und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren». Dazu sagt Munz: «Scham hängt immer mit dem Gesehenwerden zusammen. Das kann ein reeller oder aber auch bloss ein vorgestellter Blick des Anderen sein.» Die Theologin versteht die Scham nicht per se als negativ. Vielmehr spricht sie ihr eine schützende Komponente zu. Dazu gehöre auch die Selbstbestimmung, wer, was und wie mit dem eigenen Körper machen darf.
Eine Selbstbestimmung, die Gisèle Pelicot und allen Opfern von sexualisierter Gewalt entrissen wurde. Das ist eine tiefe Verletzung der eigenen Würde. Diese Erniedrigung löst Scham aus. Agota Lavoyer hat als Opferhilfeberaterin unzählige Betroffene beraten und begleitet. In diesem Jahr hat sie zwei Sachbücher über sexualisierte Gewalt veröffentlicht. Sie sagt: «Manchmal ist es einfacher, sich zu schämen, als zu akzeptieren, dass uns jemand in der intimsten Form Gewalt angetan hat und wir nichts dagegen tun konnten.» Dies umso mehr, wenn man von einer Person missbraucht worden sei, die man zuvor kannte – und ihr vertraute.
Dazu komme eine zweite Ebene der Beschämung: jene von aussen. «Wir leben in einer Gesellschaft, die den Betroffenen von sexualisierter Gewalt eine Mitschuld zuschreibt», sagt Lavoyer. Dieses Victim Blaming, auch Täter-Opfer-Umkehr genannt, ist weit verbreitet. Im eigenen Umfeld, bei der Polizei und den Strafverfolgungsbehörden. Es beginnt mit Fragen wie «Wieso bist du überhaupt bei diesem Typen ins Auto gestiegen?» oder «Hast du dich denn nicht gewehrt?» und kann in der Frage eines Richters münden: «Hätten Sie die Beine nicht besser zusammenpressen müssen?» Dieser Fall trug sich in diesem Herbst in Chur zu.
«Viele Betroffene schämen sich, dass sie sich nicht wehren konnten, weil sie ein Leben lang gehört haben, dass Betroffene sich wehren können müssen», sagt Lavoyer. Dabei sei die typische Reaktion auf einen sexualisierten Übergriff nicht die körperliche Gegenwehr. Eine schwedische Studie hat 2017 gezeigt, dass 70 Prozent der befragten Vergewaltigungsopfer eine sogenannte Schockstarre, auch Freeze genannt, erlebten. In diesem Überlebensmodus ist Schreien oder Schlagen nicht möglich.
Viele Betroffene haben jedoch eine Schuldumkehr internalisiert, sagt Lavoyer. Das führe dazu, dass sie sich nicht als legitime Opfer erkennen. Dies, weil sie sich eine Mitschuld geben, weil sie vor der Tat beispielsweise Alkohol getrunken hatten, oder weil sie das Gefühl haben, naiv gewesen zu sein. Das zeigt auch: Scham- und Schuldgefühle sind eng miteinander verknüpft. Beide führen dazu, dass Betroffene häufig nicht über die erlebte Gewalt sprechen.
Das ist nichts Neues. Im Gegenteil. Die Historikerin Elisabeth Joris hat als Pionierin die Schweizer Frauengeschichte aufgearbeitet. Für ihre Forschung hat sie unzählige Akten von Scheidungs- oder Sittlichkeitsbehörden durchgesehen. Sie sagt: «Die Beschämung der missbrauchten Frau weist eine lange Tradition auf. Es waren und sind seit Jahrhunderten stets die gleichen Argumentationsmuster.» Bereits im 19. Jahrhundert seien die Betroffenen von Richtern mit einem angeblich unsittlichen Umgang, einem frechen Auftreten oder einem unvorsichtigen Verhalten konfrontiert worden. «Das Ziel war stets dasselbe: Der Frau eine Schuld zuzuschreiben.» Das wiederum entlastete die Täter.
Joris betont, dass sich dies nur auf die Fälle von ausserehelichem sexuellem Missbrauch bezieht. Bis 1992 war die Ehe diesbezüglich ein straffreier Raum. Eine Vergewaltigung in der Ehe existierte im Gesetz zuvor nicht.
Die Gesetzgebung hat sich geändert, was aber blieb: «Bis heute gilt das eheliche Schlafzimmer als Intimbereich. Es gilt in der Regel als zu privat, um öffentlich darüber zu sprechen, was dort passiert», sagt Joris. Gerade deshalb sei das Vorgehen von Gisèle Pelicot revolutionär. Weil sie sich, ihren Mann und ihre Ehe öffentlich exponiert. «Sie durchbricht damit zusätzlich die Scham über die Verhältnisse im Ehebett», sagt Joris.
Sie ist sich sicher: Hätte Pelicot ihre Identität nicht preisgegeben und ihr Gesicht nicht gezeigt, hätte dies Raum für Spekulationen eröffnet. Dies im Sinne von: Es kann doch nicht sein, dass sie über all die Jahre nichts gemerkt hat. Oder: Was ist denn das für eine Frau, die einen solchen Mann gewählt hat? Womit wir wieder bei der Mitschuld wären.
Das bestätigt auch Agota Lavoyer. Sie sagt: «Es ist völlig richtig, dass Gisèle Pelicot von der Gesellschaft bedingungslose Unterstützung erhält. Diese hätten alle Opfer zugute. Sie bekommen sie allerdings nicht.» Um dies zu unterstreichen, fügt Lavoyer an: «Wir alle wissen, wäre Gisèle Pelicot eine Sexarbeiterin gewesen, wäre es anders herausgekommen. Sie hätte womöglich aus gewissen gesellschaftlichen Kreisen trotzdem Unterstützung erhalten, aber eine globale Solidaritätswelle hätte sie nie erfahren.»
Doch selbst eine Gisèle Pelicot muss sich einiges an Abwertung anhören: So versuchte die Strafverteidigung, sie aufgrund ihrer Sextoys in ein schräges Licht zu rücken. Die Frau eines Angeklagten sagte, wenn ihr Mann tatsächlich eine Frau hätte vergewaltigen wollen, hätte er eine schönere ausgewählt als Gisèle Pelicot. Und ein Anwalt warf ihr gar exhibitionistische Züge vor. Bei Letzterem ergriff die 72-Jährige empört das Wort und sagte: «Ich verstehe nun, warum die Opfer von Vergewaltigungen so selten Anklage erheben – schämen Sie sich, mir solche Dinge zu unterstellen!»
Bei den allermeisten Sexualdelikten steht Aussage gegen Aussage. Die Beweislast mit einem Video für jeden einzelnen Missbrauch macht den Pelicot-Fall aussergewöhnlich. Deshalb birgt die Begeisterung für Gisèle Pelicot auch Risiken. Etwa, dass ihr mutiges Auftreten als neue Norm installiert wird. Agota Lavoyer sagt dazu: «Für sie war das Strafverfahren der richtige Weg. Wir müssen uns aber bewusst sein: Für viele Betroffene ist das schlicht nicht machbar.»
Doch was passiert eigentlich, wenn die Scham tatsächlich die Seite wechselt? Oder anders gefragt: Schämen sich Männer erst dann für einen Übergriff, wenn er publik wird? «Natürlich nicht», sagt Markus Theunert. Der Psychologe und Soziologe leitet «männer.ch», den Dachverband Schweizer Männer- und Väterorganisationen. Er sagt: «Männer schämen sich sehr wohl für ihre Hilflosigkeit, der sie nur mit Gewalt zu begegnen wissen, verdrängen das aber gut. Das heisst: Die Scham ist zwar gross, die Schamabwehr ist aber noch grösser.» Deshalb müsse die Scham insofern die Seite wechseln, dass die Männer sie tatsächlich wahrnehmen und zulassen, anstatt das Gefühl mit Gewalt wegzudrücken. Sei dies durch Alkohol oder erneute Delikte.
Theunert sagt, es müsse seitens der Männer endlich die strukturelle Dimension von sexualisierter Gewalt angeschaut werden. Vielmehr würden sie sich aber der klassischen Zeigefingerstrategie bedienen. Im Sinne von: Die meisten Männer sind grundsätzlich friedlich, aber dann gibt es einige Sündenböcke, die monströse Dinge tun. Das sei nicht zielführend – und schlicht falsch. «Gewalt ist nicht in der Natur des Mannes angelegt, aber in der Erziehung zur Männlichkeit», sagt Theunert.
Auch in unserer Kultur würden Männlichkeitsanforderungen gelten, welche gesundheitsgefährdend und gewaltfördernd seien. Als Beispiele nennt Theunert: Ein richtiger Mann weint nicht, kennt keinen Schmerz und löst die Probleme alleine. Diese Anforderungen seien aber unerreichbar. So sei es schlicht unmöglich, beispielsweise nie traurig zu sein.
Das bedeute auch: «Buben merken relativ rasch, dass sie an den Männlichkeitsimperativen scheitern und sie entwickeln eine Scham, nicht zu genügen.» Er macht genau in dieser Beschämung ein starker Treiber der Gewalt aus. Gewalt, die sich auch gegen Frauen richtet. Denn Scham hat auch viel mit Macht zu tun. Wer andere beschämt und dominiert, kann dadurch seine eigene Scham abwehren. (aargauerzeitung.ch/nzu)
Die Beweislage war ganz klar, das war ihr Glück.