Während der Vorsprung von Emmanuel Macron in den Umfragen schmilzt und die Spannung vor dem ersten Wahlgang am Sonntag steigt, platzt ein Todesfall in die Kampagne. Jérémy Cohen, ein jüdischer Informatiker mit einer offenbar nicht sichtbaren Behinderung, war Mitte Februar in der Pariser Vorstadt Bobigny von einem Dutzend Jugendlicher angegriffen worden. Ein Video zeigt, wie er geschlagen wird, hinfällt, davonrennt und auf der anderen Strassenseite von einem nahenden Tram überfahren wird.
Vieles ist noch unklar – vom Streitgrund bis zur Frage, ob das Opfer eine Kippa trug. Das wäre ein Hinweis auf ein antisemitisches Motiv. Die Staatsanwaltschaft hatte anfangs nur verlauten lassen, den Tramführer treffe keinerlei Schuld. Für die Angehörigen des 31-jährigen Opfers klang das faul. Allzu oft schon hatten die französischen Behörden unvorsichtigerweise jeden Antisemitismus ausgeschlossen. Die Morde an der Jüdin Sarah Halimi 2017 und an Mireille Knoll ein Jahr später wurden erst später als judenfeindlich qualifiziert.
Die Brüder von Jérémy Cohen starteten darauf selber eine Suche nach Zeugen. So erhielten sie ein Video, mit dem Unbekannte den Tathergang gefilmt hatten. Erst nach der Verbreitung des Videos lancierte die Justiz eine Voruntersuchung gegen die Angreifer, die nicht verhaftet oder einvernommen sind. Ein «diskriminierendes», das heisst antisemitisches Motiv, nimmt der zuständige Staatsanwalt aber weiterhin nicht an, wie er am Dienstag mitteilte. Ob eine Kippa im Spiel war, sei unbekannt, sagte er.
Cohens Familie behauptet dagegen, Jérémy habe eine weisse Kippa bei sich gehabt und vermutlich auch getragen. Sein Vater räumte am Fernsehen ein, er habe sich aus der Befürchtung, «dass auch diese Affäre unter den Tisch gekehrt wird», an den Präsidentschaftskandidaten Eric Zemmour gewandt. Dieser rechte Einwanderungsgegner jüdisch-algerischer Abstammung, der in den Umfragen zurückgefallen ist, twitterte umgehend: «Ist er tot, weil Jude? Warum wird die Affäre vertuscht?»
Si Emmanuel Macron avait pris le temps de rencontrer le père de Jérémie Cohen, il ne traiterait pas une affaire aussi grave avec un tel mépris. La mort de Jérémie n'est pas un drame de plus : c'est un scandale d'État.#JeremyCohen https://t.co/fYebcJO7sY
— Eric Zemmour (@ZemmourEric) April 5, 2022
Damit ist der Todesfall vollends ein Politikum – und ein Wahlkampfthema. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen spricht von der Möglichkeit eines «antisemitischen Mordes» und verlangt eine parlamentarische Untersuchung. Linkenchef Jean-Luc Mélenchon und der Grüne Yannik Jadot verlangen unisono, dass «volles Licht in die Affäre» gebracht werde. Die Konservative Valérie Pécresse sprach von einem «Lynchmord».
Macron rief seinerseits Cohens Eltern an und versicherte ihnen, er werde persönlich dafür sorgen, dass die Ermittlungen rasch vorankämen. Bei einem Auftritt in der Bretagne sprach sich der wiederkandidierende Präsident aber auch gegen «politische Manipulationen» aus, womit er Zemmour und Le Pen visierte.
Pariser Medien schätzen, dass der Todesfall die gesamte Präsidentschaftskampagne umstürzen könnte. Vor allem Zemmour verspricht sich neuen Auftrieb, nachdem er als Putin-Versteher in den Umfragen zurückgefallen war. Aber auch Le Pen kann nur davon profitieren, wenn die ganze «Banlieue-Frage» in den medialen Fokus zurückkehrt.
Das französische Wahlsystem mit seinen beiden Durchgängen bringt es mit sich, dass es oft nur wenig braucht, um einen kompletten Umschwung herbeizuführen. Die Abstände zwischen Qualifizierten und den dahinter Folgenden sind oft minim. Im Jahr 2002 schaffte es der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen mit 0.7 Prozent Vorsprung vor dem Sozialisten Lionel Jospin in die Stichwahl.
Dieser Umstand gab viel zu reden. Nur zwei Tage zuvor hatte Frankreich starken Anteil an einem erpresserischen Einbruchsversuch in Orléans genommen. Das Fernsehen zeigte einen weinenden Rentner namens Paul Voise in seinem ausgebrannten Haus. Viele Politologen begründeten später das überraschende Vordringen Le Pens in die Stichwahl mit den ergreifenden Bildern des Einbruchsopfers. «Die Tränen von Papy Voise» (von Grossvater Voise) sind in Frankreich heute ein stehender Ausdruck für den medialen Einfluss auf Wahlen.
Im Fall von Jérémy Cohen befleissigen sich die französischen Medien nun einer gewissen Zurückhaltung. Das bringt ihnen umgekehrt den Vorwurf ein, sie verschwiegen «einen Staatsskandal». Wie schon in früheren Fällen wird die Wahrheit erst nach den Wahlen bekannt werden.