Der Bundeskanzler bemühte sich um Gelassenheit. Die gescheiterte Richterwahl letzte Woche im Bundestag sei «kein Beinbruch», sagte Friedrich Merz am Sonntag im ARD-«Sommerinterview». Er verwies darauf, wie viel seine schwarz-rote Koalition in den ersten 70 Tagen erreicht habe. Die wenigsten Beobachter jedoch teilen seine rosige Einschätzung.
Für sie steckt die neue deutsche Regierung bereits in der Krise. Selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der sich sonst kaum in die Tagespolitik einmischt, meinte am Sonntag im ZDF, die Koalition aus CDU/CSU und SPD habe sich «selbst beschädigt». Denn in der Regel ist eine Wahl ans Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Routineübung.
Am Freitag, dem letzten Sitzungstag vor der Sommerpause, endete sie im Chaos. Quasi in letzter Minute zog CDU/CSU-Fraktionschef Jens Spahn die Notbremse, das Geschäft wurde von der Traktandenliste gestrichen. Grund war der Widerstand in den eigenen Reihen gegen die von der SPD nominierte Juristin Frauke Brosius-Gersdorf.
Konservative Unionsabgeordnete halten die Staatsrechtlerin aus Potsdam für eine linke Aktivistin, vor allem wegen ihrer Positionen in der Abtreibungsfrage. Brosius-Gersdorf soll postuliert haben, dass die im Grundgesetz festgehaltene Würde des Menschen erst mit der Geburt beginnt. Weshalb christliche Politiker gegen die SPD-Kandidatin rebellierten.
Als der berüchtigte österreichische «Plagiatsjäger» Stefan Weber am Wahltag Parallelen in den Doktorarbeiten von Frauke Brosius-Gersdorf und ihrem Ehemann aufzeigte, entgleiste die Lage komplett. Später stellte sich heraus, dass sie ihre Habilitationsschrift zuerst veröffentlicht und ihr Mann – wenn überhaupt – eher bei ihr abgeschrieben hat.
Die Hauptschuld am Debakel trägt Jens Spahn. Er hatte es nicht geschafft, seine Fraktion «auf Linie» zu bringen. Womöglich war er abgelenkt durch die «Maskenaffäre». Spahn wird vorgeworfen, als Gesundheitsminister zu Beginn der Corona-Pandemie Schutzmasken zu völlig überrissenen Preisen gekauft zu haben, unter anderem bei der Zuger Firma Emix.
Jetzt ist Spahns Autorität beschädigt. Doch auch Friedrich Merz ist angeschlagen. Schon seine Wahl zum Bundeskanzler verlief Anfang Mai holprig. Im ersten Wahlgang verpasste er die Mehrheit im Bundestag – ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik. «Heckenschützen» aus den eigenen Reihen hatten ihm die Stimme verweigert.
Es war ein Fehlstart für die schwarz-rote Regierung. Seither lief nicht alles schief, im Gegenteil. Vor allem aussenpolitisch konnte sich der «Regierungsanfänger» Merz profilieren, etwa im Umgang mit US-Präsident Donald Trump. Das äussert sich in seinen anfangs miserablen Beliebtheitswerten, die einen deutlichen Aufwärtstrend verzeichnen.
In der Innenpolitik aber vermissen manche bei ihm die nötige Führungsstärke. Dabei brodelt es in der Union. Ihre Wählerinnen und Wähler sind empört, dass Merz entgegen den Versprechen im Wahlkampf die Schuldenbremse «ausgehebelt» hat. Für Unmut sorgt auch, dass Privathaushalte vorerst nicht von einer Senkung der Stromsteuer profitieren.
Beim Koalitionspartner sieht es nicht besser aus. Viele Sozialdemokraten hadern mit der verschärften Migrationspolitik. Für eine veritable Revolte sorgten Vertreter des linken Parteiflügels um den früheren Fraktionschef Rolf Mützenich. In einem «Manifest» sprachen sie sich gegen die geplante Aufrüstung der Bundeswehr und für eine Annäherung an Russland aus.
Man könnte dies als «Geburtswehen» einer Regierung betrachten, die quasi aus der Not geboren wurde. CDU/CSU und SPD haben als einziges Zweierbündnis im Bundestag eine Mehrheit ohne AfD und Linke, und die ist mit zwölf Stimmen sehr knapp. Es könnte aber darauf hindeuten, dass der Wille zum Kompromiss auch in Deutschland schwindet.
Das weckt Erinnerungen an üble Zeiten. Umso mehr sind Merz und SPD-Vizekanzler Lars Klingbeil gefordert. Doch auch der Finanzminister ist lädiert. Am Parteitag Ende Juni wurde Klingbeil nur mit 65 Prozent der Stimmen als SPD-Chef wiedergewählt, obwohl er keine Herausforderer hatte. Es war ein Misstrauensvotum an seine Adresse.
Viele in der Partei geben Klingbeil die Schuld am schlechtesten Bundestagswahl-Ergebnis der SPD seit Gründung der Bundesrepublik. Auch die Personalpolitik des machtbewussten Niedersachsen ist umstritten. So hatte er die bisherige Co-Chefin Saskia Esken regelrecht «weggemobbt» und ihr auch ein Regierungsamt verweigert.
Führungspersonen mit beschädigter Autorität sind schlechte Voraussetzungen für die Arbeit der jungen Regierung. Gefährdet ist sie nicht, aber «noch so ein Debakel kann Merz sich nicht leisten», meint der «Spiegel» in einem Leitartikel zur missglückten Richterwahl. Der Bundeskanzler müsse künftig mehr Überzeugungsarbeit bei den eigenen Leuten leisten.
Indirekt räumte Friedrich Merz dies im ARD-«Sommerinterview» ein. Er wisse, dass «wir unserer Fraktion einiges zumuten», sagte der CDU-Chef. Gleiches gelte für die SPD und ihre Fraktion. Schwarz-Rot sei eben keine Liebesheirat, sondern eine «Arbeitskoalition». Und allen sei klar, «dass dabei nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen», so der Bundeskanzler.
An Bewährungsproben wird es weiterhin nicht mangeln. Das beginnt mit der Richterwahl, die nach den Ferien nachgeholt werden muss. Auf dem Spiel steht einiges, denn das Karlsruher Verfassungsgericht ist eine der angesehensten Institutionen in Deutschland. Es wäre fatal, wenn es wie der Supreme Court in den USA zu einer ideologischen Kampfzone würde.
Letztlich geht es auch um das Funktionieren der während langer Zeit vorbildlichen deutschen Demokratie. Sollte die Regierung Merz in einem ähnlichen Desaster enden wie die Ampel-Koalition von Olaf Scholz, würde sich nur die AfD freuen. Es könnte dann immer schwieriger werden, eine auch nur halbwegs stabile Regierung zu bilden.
Das ist in 100 Tagen schon das zweitemal das die Union ihren eigenen Kanzler Vorführt.
Das macht man nicht ohne klare Interessen.
Gefühlt will einer so seine Kanzlerschaft erringen. Den Merz den Vorrang geben musste und jetzt ihn so lange Torpediert, bis der Abtritt. Oder es sind die typen in der Union die lieber mit der AFD Regieren wollen als mit der SPD.
Merz erlebt jetzt gerade was es Bedeutet: Feind, Erzfein, Parteifreund!