Der strategische Vorteil im Luftkrieg lag bisher beim Angreifer Russland. Mit seinem Arsenal an Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen trachtet Moskau aktuell danach, die ukrainische Luftabwehr auszuschalten – dies zu einem ganz bestimmten Zweck.
Bojan Stula / ch media
Die F-16 kann sowohl Lenkraketen gegen feindliche Flugzeuge abschiessen als auch Bomben und weitreichende Lenkwaffen zur Bekämpfung von Land- und Seezielen tragen.Bild: keystone
Auf die grossen Geländegewinne der ukrainischen Armee im vergangenen Herbst antwortete Russland mit einer strategischen Raketenoffensive. Ziel war die ukrainische Energieinfrastruktur. Als der beabsichtigte langfristige Unterbruch der Strom- und Wasserversorgung ausblieb, verschob Moskau den Schwerpunkt seiner Fernangriffe auf die Ausschaltung der ukrainischen Luftabwehr.
In ihrem Abwehrkampf gegen die Angriffe aus der Luft feiert die Ukraine zwar immer wieder spektakuläre Erfolge. Tatsache aber bleibt, dass der Aggressor Russland die strategische Initiative weiterhin innehält, während die Ukraine nur mit isolierten Gegenschlägen reagieren kann.
Inwiefern sich dieses Gewicht angesichts der aktuellen Entwicklungen im Luftkrieg und der F-16-Lieferfreigabe verschieben kann, zeigt die nachfolgende Übersicht.
12 Fakten zum Luftkrieg über Ukraine
- Die ukrainische Luftabwehr ist über den städtischen Ballungszentren erfolgreich, wo der Verbund aus radargesteuerten Fliegerabwehrraketen und -kanonen einen dichten Schirm bildet. Gegen die langsam fliegenden und lauten Schahed-Drohnen iranischer Bauart hat sich der deutsche Flak-Panzer Gepard als ebenso effektive wie effiziente Waffe im Nahbereich erwiesen.
- Kürzlich gelieferte, moderne Raketensysteme wie die deutschen Iris-T-Batterien, die Patriot-Werfer aus amerikanischer Produktion und die US-norwegischen Nasams sind nicht nur gegen die russischen Raketen erfolgreich, sondern halten auch die feindliche Luftwaffe auf Distanz. Das Hauptproblem der Ukrainer ist, dass bisher zu wenige moderne Systeme zur Verfügung stehen, um den riesigen ukrainischen Luftraum flächendeckend und insbesondere über den eigenen Frontlinien zu schützen.
- Innerhalb der vergangenen zehn Tage hat Russland laut bestätigten Angaben den Verlust von zwei hochmodernen Su-35-Jägern, eines Su-34-Jagdbombers und zwei Mi-8-Helikoptern zu beklagen. Noch ist nicht klar, mit welchem Raketentyp diese Maschinen abgeschossen wurden, da die Abschüsse wohl ausserhalb der Reichweite der oben erwähnten ukrainischen Abwehrsysteme erfolgten; zuletzt die zweite SU-35 über dem Schwarzen Meer. Das deutet auf eine neu erworbene ukrainische Langstrecken-Fähigkeit in der Luft hin - denkbar wären etwa mit Fliegerabwehrraketen bestückte Drohnen. Seit Kriegsbeginn stehen laut US-Quellen rund 60 abgeschossenen ukrainischen Flugzeugen mehr als 70 russische gegenüber.
- Nach den russischen Angriffen der vergangenen Nacht auf zivile Ziele in Dnipro reklamiert die Ukraine den Abschuss aller 20 anfliegenden Schahed-Drohnen und der 4 abgefeuerten russischen Marschflugkörper vom Typ Kh-101/Kh-555. Bei einer veritablen Luftschlacht über Kiew am 15./16. Mai sollen die ukrainischen Patriot-Batterien auch 6 Kindschal-Hyperschallraketen abgeschossen haben.
- Dass die Russen die ukrainischen Städte trotz dieser Abschusszahlen weiterhin mit Wellen von Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen angreifen, dient drei unmittelbaren Zielen: Erstens hält dies die ukrainischen Flugabwehrsysteme von den Frontlinien fern. Zweitens müssen die Ukrainer ihre kostspieligen Iris-T- und Patriot-Vorräte für den Schutz der Zivilbevölkerung aufbrauchen. Drittens greifen die Russen zunehmend die Raketenabwehrstellungen selbst an, sobald sich diese durch ihr Abwehrfeuer enttarnen. Russland hat bisher die Zerstörung von vier Patriot-Werfern vermeldet, was von ukrainischer Seite bestritten wird.
- Die Strategie hinter der russischen Raketenoffensive beabsichtigt die Niederkämpfung und Erschöpfung der ukrainischen Flugabwehr, um endlich die überlegene russische Luftwaffe in voller Kraft über den Kampflinien in der Ukraine einsetzen zu können. Die russischen Flugstreitkräfte mit Hunderten noch nicht eingesetzter Kampfjets sollen so zur kriegsentscheidenden Waffe werden.
- Dazu passt der aktuelle Geheimdienstreport des britischen Verteidigungsministeriums. Laut diesem will Russland eine neue Elite-Einheit der Luftwaffe schaffen, die mit Su-34- und Su-24-Jagdbombern und Helikoptern die ukrainischen Bodentruppen angreifen soll. Dafür würden aktuell in Russland erfahrene Piloten gesucht und mit der Aussicht auf hohe Bezahlung angelockt. Laut dem britischen Militärgeheimdienst hört die neue Einheit auf den Code-Namen «Schtorm» (Russisch für «Sturm»).
- Dass der verstärkte Einsatz von Kampfflugzeugen zur Bekämpfung von Bodenzielen kriegsentscheidend sein könnte, hat längst auch die Ukraine erkannt. Präsident Wolodimir Selenski richtete seine gesamte Reisediplomatie der vergangenen Wochen darauf aus, mit dem F-16-Jet ein geeignetes Mehrzweckkampfflugzeug zu erhalten, welches die strategische Initiative auf die Seite der Ukraine zu ziehen vermag. Der rasche Erfolg seiner ins Leben gerufenen «Kampfjet-Allianz» mag wohl selbst in Kiew für Überraschung gesorgt haben.
- Obschon die F-16 erstmals 1979 bei einer US-Einheit flog und bei mehreren Luftwaffen kurz vor der Ausmusterung steht, gelten die später gebauten Varianten nach wie vor als leistungsstark und vielseitig verwendbar. Besonders erfolgreich hat die israelische Luftwaffe die F-16 eingesetzt, von der sie mehr als 360 Exemplare beschaffte: So zeigte der US-Jet seine Eignung als Erdkampfflugzeug erstmals 1981 bei der Langstrecken-Bombardierung des irakischen Nuklearreaktors Osirak. In Luftkämpfen schossen die mit Lenkraketen und Kanonen bewaffneten israelischen F-16 bisher 47 Maschinen sowjetischer Bauart ab, darunter zahlreiche syrische MiG-21 und MiG-23.
- Die F-16 sind aber keine Wunderwaffen, wie die US-Expertin Brynn Tannehill betont. Ihre Hauptschwäche ist die veraltete Radarausrüstung, die sie im Luftkampf anfällig auf die 200 Kilometer weit reichende russische R-37-Lenkwaffe macht. Gegen diese haben auch die ukrainischen MiG-29 bisher keine Chance gehabt. Erfolgreich können die F-16 nur im Verbund mit den modernen Flugabwehrraketensystemen und in elektronischer Koppelung mit dem Patriot-Radar operieren.
- Welche Bedrohung dennoch von der F-16-Lieferfreigabe ausgeht, zeigen die ausführlichen Reaktionen in Moskau. Zuerst bezeichnete das russische Aussenministerium künftige F-16-Lieferungen an die Ukraine als «kolossales Risiko», was US-Präsident Joe Biden mit «Ja, für Russland» («It is for them») quittierte. Am Montag gab Vize-Aussenminister Sergej Rjabkow Gegensteuer, indem er die F-16-Kampfjets als «nutzlos für den Kriegsverlauf» bezeichnete. Die Pläne des Westens und die Ausbildung ukrainischer Piloten an den F-16 würden Russland nicht daran hindern, «in der Spezialoperation die gewünschten Ergebnisse zu erzielen».
- Wie lange die Umschulung der ukrainischen Piloten auf den US-Jet dauern wird, ist noch unklar. Oft zitiert wird eine Analyse der US-Kongressforschungsgruppe, welche die Ausbildungsdauer auf nur vier Monate schätzt, was viel kürzer ist als gängige Expertenmeinungen. Britische Medien berichteten jüngst, dass ukrainische Piloten bei einem Testlauf an F-16-Flugsimulatoren «überragend» abgeschnitten haben sollen. Greg Bagwell, der frühere Oberbefehlshaber der britischen Royal Airforce, beschrieb in einem Interview die Möglichkeit, Ukrainer ohne fliegerische Erfahrung innert zweier Jahre zu F-16-Kampfpiloten ausbilden zu können.
Russischer Kampfjet von der Türkei abgeschossen
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Russischer Kampfjet von der Türkei abgeschossen
Die türkische Luftwaffe hat am Dienstag ein russisches Kampfflugzeug an der syrischen Grenze abgeschossen: Der türkische TV-Sender HaberTurk hat Videoaufnahmen veröffentlicht, die den Absschuss des Kampfjets zeigen sollen.
quelle: epa/haberturk tv channel / haberturk tv channel
Gefangennahme per Drohne: Russischer Soldat flieht durch Niemandsland
Video: watson
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Mindestens sechs Menschen sind nach Behördenangaben in der südukrainischen Hafenstadt Odessa durch einen russischen Raketenschlag ums Leben gekommen.
Elf weitere wurden verletzt, sieben davon schwer. «Ziel des Feindes war erneut die Hafeninfrastruktur», schrieb der Militärgouverneur der Region, Oleh Kiper, auf Telegram. Seinen Angaben nach wurde ein ziviler Containerfrachter unter der Flagge Panamas getroffen. Die Opfer sind ukrainische Staatsbürger.
Ich erkenne immer mehr Parallelen zu den 1940ern. Nur dieses mal ist es nicht Deutschland.