Mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie erreichen die globalen täglich gemeldeten Fallzahlen Rekordhöhen. Insbesondere ein Land treibt sie in die Höhe: Indien. Ein Drittel aller weltweit gemeldeten Fälle stammen aus dem südasiatischen Land.
Seit etwa einer Woche bricht Indien täglich den Rekord an gemeldeten Fallzahlen pro Tag. In dem Land mit mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern wurden nach Angaben aus dem Gesundheitsministerium innerhalb von 24 Stunden insgesamt 259'000 neue Corona-Fälle erfasst. Setzt sich dieser Trend fort, könnten die täglichen Zahlen innerhalb eines Monats bis auf 500'000 steigen, sagt Bhramar Mukherjee, Biostatistiker der Universität Michigan gegenüber der «Washington Post».
Das Gesundheitssystem ist am Anschlag. Noch zu Beginn des Jahres wog sich das Land in Sicherheit – fälschlicherweise. Die Fallzahlen waren stetig gesunken, in der Hauptstadt Delhi begann man damit, die Coronavirus-Stationen abzubauen. Man glaubte, man hätte das Schlimmste überstanden. Dieser Irrtum kostet jetzt Menschenleben: Überlastete Spitäler in Delhi können teilweise keine neue Patienten aufnehmen, die Intensivbetten sind fast komplett ausgelastet, der Sauerstoff-Vorrat wird knapp.
Ein Beamter in der Stadt Nagpur, im Bundesstaat Maharashtra, berichtete gegenüber der «Washington Post» von der aus der Kontrolle geratenen Situation. In den vergangenen Tagen seien 10 Menschen in seinem Bezirk gestorben, weil sie aufgrund von Betten-Mangel nicht ins Spital eingeliefert werden konnten. Krematorien in Grossstädten sind überlastet.
Und genau jetzt geht vielen Städten aufgrund von Versorgungsengpässen der Impfstoff aus und Sorge um eine potenziell gefährliche Mutante macht sich breit.
Die in Indien entdeckte Doppelmutante B.1.617 trägt gleichzeitig die beiden Mutanten E484Q und L452R in sich. Nebst den dürftig umgesetzten Schutzmassnahmen und einer weit verbreiteten Sorglosigkeit könnte auch diese Virusmutation für den massiven Anstieg der Fallzahlen verantwortlich sein. Wie auf der Grafik ersichtlich, hat die Mutation andere Stämme seit Februar rasant verdrängt:
In Indien bahnt sich Covid Katastrophe an. Neue Mutation B1.617 setzt sich massiv durch, auch gegen B117. Da B1.617 sich auch bei Impfung durchsetzen kann, kommt auch auf Europa ein Problem zu. In England wächst B1.617 rasant, aber es ist noch unklar, ob dies nur Reisende sind pic.twitter.com/D9LkjpFPyz
— Karl Lauterbach (@Karl_Lauterbach) April 19, 2021
Der deutsche SPD-Gesundheitsfachmann Karl Lauterbach sieht darin eine neue Katastrophe auf Europa zukommen. Die Experten sind sich allerdings nicht ganz einig, wie das Virus einzuschätzen ist. Für die Variante gebe es nicht viele Daten, sagt Richard Neher, Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien am Biozentrum der Universität Basel. «Aus den wenigen Beobachtungen kann man noch keinen verlässlichen Trend ableiten, aber das sollte genau beobachtet werden», sagt er gegenüber dem «Handelsblatt». Die Aussage relativiert er aber gleich wieder, da über eine Vielzahl von Varianten mit bemerkenswerten Mutationen nicht viel bekannt sei. Aus diesem Grund glaube er nicht, dass B.1.617 mehr Aufmerksamkeit als andere Varianten verdiene.
Der Daten-Journalist der Financial Times, John Burn-Murdoch, weist wiederum auf die Situation in Grossbritannien hin. Dort sei die Doppelmutante auch schon vorgefunden worden und steige schnell an:
NEW: the variant thought to be responsible for fuelling India’s grim second wave (B.1.617) has been found in the UK, and numbers are rising relatively quickly in Britain.
— John Burn-Murdoch (@jburnmurdoch) April 16, 2021
Story from @AnnaSophieGross & @JasmineCC_95 https://t.co/bubOcJf3GV
Quick thread on caveats: pic.twitter.com/7ivj0AZYvr
Einerseits bietet die Corona-Lage in Indien und Grossbritannien Grund zur Besorgnis, andererseits liegen noch nicht genügend Daten für eine Beurteilung vor. Wie steht es denn tatsächlich um die Datenlange in Indien?
Die Testsituation ist sowohl unübersichtlich wie auch inkonsistent. Das Indian Council of Medical Research informiert zwar täglich über die aktuellen Testzahlen, doch diese fallen alles andere als detailliert aus:
Auch auf der Website des Gesundheits- und Familienministeriums sucht man vergeblich nach genaueren Daten:
Welche Tests angewandt und wie viele Tests pro Staat durchgeführt werden, wird nicht bekannt gegeben.
Einen kleinen Einblick in die inkonsistente Teststrategie gewährt ein Bericht der BBC vom vergangenen Dezember. Gemäss Daten, die ihr vorlagen, wurde die Mehrheit aller Tests in Indien mittels Antigen-Schnelltests durchgeführt. Die folgende Grafik zeigt, wieviele PCR-Tests prozentual pro Staat durchgeführt wurden:
Während im Bundesstaat Uttar Pradesh 40 Prozent aller Tests anhand der PCR-Methode durchgeführt wurden, waren es in Bihar nicht einmal 15 Prozent. Da die Antigen-Schnelltests ungenauer sind als die PCR-Tests, muss davon ausgegangen werden, dass in Bundesstaaten mit weniger PCR-Tests mehr Fälle unentdeckt bleiben.
Noch schwammiger wird das Ganze, wenn man die Testhäufigkeit hinzuzieht. Ein Beispiel aus dem Bericht der BBC: Bis zum 30. November wurden in der Hauptstadt des Bundestaates Uttar Pradesh, Lucknow, 13 Prozent aller Fälle gefunden. Dies, obwohl dort weniger als 6 Prozent der gesamten Tests im Bundesstaat durchgeführt wurden. Andere Teile des Bundesstaates hatten wiederum relativ viele Tests durchgeführt, hatten aber weniger Fälle. Somit würde zwar das erwünschte Testvolumen erreicht, aber weniger Fälle gemeldet, so die BBC.
Dass das Testvolumen dennoch nicht hoch ist, zeigt ein Vergleich mit der Schweiz und den USA:
Die Datenlage scheint also relativ unübersichtlich zu sein, was eine genaue Beurteilung der Mutation erschwert. Dass die Corona-Lage in Indien langsam aus dem Ruder gerät, ist allerdings unübersehbar – ungenaue Daten hin oder her. Offen bleibt, wie sehr die Corona-Mutation B.1.167 dafür verantwortlich gemacht werden kann.
Auch das BAG verweist auf die unsichere Datenlage. Die Situation in Indien sei relativ unklar, sagte Patrick Mathys, Leiter Sektion Krisenbewältigung und internationale Zusammenarbeit beim BAG, am Dienstag in Bern vor den Medien. Es gebe Hinweise darauf, dass die indische Mutation bisher erreichte Immunität umgehen könne. Weiter sagt er:
Indien befindet sich momentan nicht auf der Risikoliste des BAG.
«Aus den wenigen Beobachtungen kann man noch keinen verlässlichen Trend ableiten, aber das sollte genau beobachtet werden»
Beobachten und nochmal beobachten.
Wieso setzt man Indien nicht vorsorglich auf die Risikoliste? Wenn sich durch Beobachten das Ganze als nicht relevant entpuppt, kann man sie immer noch von dieser Liste nehmen.
Haha. Ich denke, mittlerweile kann man sich genauere Erläuterungen zur obigen Überschrift aus offensichtlichen Gründen jeweils sparen. Oder stattdessen einfach etwas hinschreiben im Stil von "Dörfsch drü mal rate, lol!!!" Das wäre wohl am passendsten.