Herr Carlson, in den letzten Tagen sind über 150 chinesische Militärflugzeuge in die taiwanesische Identifikationszone zur Luftverteidigung eingedrungen. Was hat das zu bedeuten?
Brian Carlson: Es scheint, als ob China mannigfaltige Gründe für sein Vorgehen hat. Einerseits war am 1. Oktober Nationalfeiertag in China, am 10. Oktober jener in Taiwan. China dürfte also bis zu einem gewissen Punkt Taiwan einschüchtern, um damit das Publikum im eigenen Land zu bedienen. Andererseits hat eine Allianz, bestehend aus den USA, Japan, Kanada, Grossbritannien, den Niederlanden und Neuseeland letztes Wochenende eine grosse Militärübung südwestlich von Okinawa abgehalten. Die Flüge dürften also auch eine Antwort auf die als Provokationen angesehenen Aktionen des Westens sein. Man will daran erinnern, dass Taiwan immer noch als untrennbarer Teil von China angesehen wird.
Gibt es weitere Gründe?
Taiwan hat vor kurzem Interesse daran bekundet, beim Nachfolgerabkommen der Transpazifischen Partnerschaft mitzumachen (CPTPP). China ist gegen jegliche Partizipation Taiwans bei internationalen Partnerschaften. Auch dies dürfte eine Rolle gespielt haben.
Also ist Chinas Vorgehen mehr eine Antwort auf Provokationen als ein Akt der Aggression an sich?
Es scheint tatsächlich so, als ob China zum jetzigen Zeitpunkt kein Interesse daran hat, Taiwan militärisch anzugreifen. Es will einfach ein klares Signal senden, dass man keine Einmischung aus dem Ausland duldet und nach wie vor kein Weg daran vorbeiführt, dass Taiwan dereinst mit China wiedervereint wird.
Denken Sie, die Signale kommen an?
Nein. Ich glaube, China schadet sich damit selbst. Man hat es letztes Jahr gesehen: China und Indien haben sich über die Grenzen im Himalaya gestritten. Seither ist Indien näher an die USA gerückt. Auch wollte man Australien einschüchtern, was ebenfalls dazu geführt hat, dass Australien engere Partnerschaften mit Grossbritannien und den USA eingegangen ist. Die jetzigen Provokationen werden dazu führen, dass Taiwan sich darin bestärkt sieht, sich selbst zu verteidigen und noch enger mit westlichen Verbündeten zusammenzuarbeiten. Auch steigen die Sympathien für Taiwan weltweit, was Tür und Tor für weitere Allianzen öffnet.
Die USA sind die wichtigsten Verbündeten von Taiwan, sie geben sich als Schutzpatron des Inselstaates. Ist das nur Gerede oder wird man im Falle eines Krieges auch wirklich einschreiten?
Die USA unterstützen Taiwan, auch mit Waffen. Sie sind aber nicht dazu verpflichtet, Taiwan im Falle eines Krieges wirklich zu helfen, wie es bei anderen Staaten der Fall ist. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass sie dies tun würden, wenn China versucht, Taiwan militärisch einzunehmen.
Glauben Sie wirklich, die USA würde einen Krieg mit China eingehen? Das wäre doch verheerend für alle Seiten.
Ein Krieg zwischen den USA und China wäre tatsächlich potenziell katastrophal. Das heisst jedoch nicht, dass die USA dieses Risiko nicht trotzdem eingehen würden. Es gibt für die Amerikaner starke Anreize, eine militärische Machtübernahme in Taiwan zu verhindern. Nicht nur zum Schutze Taiwans, sondern auch um die Beziehungen der USA in ganz Asien zu sichern. Wenn die USA im Falle einer militärischen Aggression Chinas nichts tun, so laufen sie Gefahr, dass sie das Vertrauen vieler asiatischer Staaten verlieren und diese sich dann China zuwenden. Aber klar: Es ist absolut unsicher, ob die Bevölkerung in den USA einen Krieg gegen China billigen würde.
Die taiwanesische Präsidentin Tsai Ing-wen schrieb in einem offenen Brief am Dienstag, dass der Fall Taiwans einem Sieg des Autoritarismus über die Demokratie gleichkommen würde. Was sagen Sie dazu?
Ich stimme der Präsidentin zu. Nicht nur das: Eine Übernahme Taiwans würde die Stabilität in ganz Asien gefährden und letztlich dazu führen, dass asiatische Staaten sich China zuwenden müssten. Dies wiederum dürfte China zur potenziellen Weltmacht Nummer eins machen. Oder der USA diese Position zumindest streitig machen. Man sieht also: Es steht viel auf dem Spiel.
In letzter Zeit werden die Rufe immer lauter, dass die Schweiz und andere Länder Taiwan als Staat anerkennen sollen. Würde das etwas ändern?
Ja, wenn andere Staaten anfangen würden, Taiwans Unabhängigkeit anzuerkennen, sähe sich China wahrscheinlich dazu gezwungen, sofort gegen Taiwan in den Krieg zu ziehen. Die Kommunistische Partei Chinas stützt seine Legitimität fast ausschliesslich auf Nationalismus. Die Bevölkerung Chinas ist sehr nationalistisch geprägt. Unabhängigkeitsbekundungen Taiwans und anderer Staaten würden also dazu führen, dass China sich durch die öffentliche Meinung im eigenen Land gezwungen sähe, in den Krieg zu ziehen. Selbst wenn es wüsste, dass es verlieren würde.
Weil die Regierung sonst Gefahr läuft, von der eigenen Bevölkerung gestürzt zu werden?
Genau.
Wie sieht es also mit der Zukunft Taiwans aus? Wo stehen wir in fünf bis zehn Jahren?
Die Situation ist besorgniserregend. Vor wenigen Tagen hat der Verteidigungsminister Taiwans gesagt, dass China in fünf Jahren die militärische Power besitzen wird, um Taiwan mit minimalen Verlusten einzunehmen. Verschiedene US-Studien besagen, dass es zunehmend schwieriger wird, Taiwan vor China zu schützen. Der Leiter der Indopazifischen US-Streitkräfte geht momentan davon aus, dass China Taiwan in den nächsten sechs Jahren einnehmen wird.
Glauben Sie das auch?
Ich befürchte, dass dies sehr wohl möglich ist.
Zu Ihrem 100 Jahr Jubiläum Ihrer Volksrepublik wird China die Nummer 1 sein. Und mir macht dieser Gedanke Angst, da wir alle wissen wie China zu den Menschenrechten steht.
Das finde ich ein schwaches Argument. Den Zwang hat sich die KP ja selber und freiwillig auferlegt, weil sie ständig den Nationalismus schürt.
China wird eh früher oder später einen Vorwand erfinden, um Taiwan anzugreifen. Darauf muss man wirklich keine Rücksicht nehmen.
Wichtiger wäre, China klar zu machen, wie teuer eine Invasion wäre. Etwa durch das Ende diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen mit China.