Ai Weiwei flaniert durch den lichttrunkenen Glasbau «Square», den die HSG für Ihre Studierenden als Kapitol hoch über St. Gallen errichtet hat. Er wird sich hier mit Studierenden treffen, Sammler und China-Experte Ueli Sigg hat die Einladung vermittelt. Beeindruckt scheint Weiwei nicht, er ist mit allen Wassern der Öffentlichkeit gewaschen und beherrscht gleichgültig-professionell die Distanznahme zu architektonischen Weltwundern sowie zu Fans und den Medien. Als man ihm schliesslich zum Gespräch gegenübersitzt, ist die Überraschung perfekt: Ai Weiwei reicht der Journalistin die Hand.
Mister Weiwei, darf ich persönlich sein und fragen: Worüber haben Sie sich kürzlich sehr gefreut?
AI WEIWEI: Sicher dürfen Sie. Um ehrlich zu sein, das war diesen Morgen. Es hat mich gefreut, wach zu werden. Die Tatsache, dass wir jeden Tag wach werden, können wir gar nicht hoch genug wertschätzen. Wir haben einen neuen Tag vor uns und wahrscheinlich sogar auch einen nächsten, weiteren Tag.
Ihr Bewusstsein für das Geschenk, leben zu dürfen, ist gross. Beginnen Sie denn Ihre Tage jeweils mit Ritualen?
Ja, das tue ich, aber sie ändern sich mit der Situation. Heute Morgen wusste ich zum Beispiel, dass ich mich mit Studierenden austauschen würde, das ist gut. Kommunikation ist für mich das Allerwichtigste.
Und was hat Sie neulich masslos geärgert?
Das ist einfach, Ignoranz ärgert mich immer. Die Nichtakzeptanz von Realität, das Verhaftetsein in Illusionen.
Können Sie uns die Ignoranz, die Sie wiederholt ärgert, in einem Beispiel vorstellen?
Ein Beispiel? Oh, davon gibt es viel zu viele! Oder sagen wir… Nein, es ist so, es gibt zu viele Beispiele für Ignoranz.
Weder Ihre Begeisterung noch Ihr Missfallen, die Sie vorhin erwähnt haben, stehen in irgendeiner Verbindung zur Kunst. Dabei sind Sie doch ein Künstler, ist Kunst nicht das Zentrum Ihres Lebens?
Kunst ist da und ist gleichzeitig nicht da. Das Leben ist immer da, jeder hat ein Leben und hat eine Form, sich auszudrücken. Es gibt Menschen, die dafür eine besondere Sensibilität besitzen, für diese Form oder diesen Sound des Lebens. Das nennt man dann bisweilen Kunst. Für mich ist alles Kunst. Sobald Dein Bewusstsein wach ist und anwesend, ist jeder Moment Kunst.
Schon ihr Vater, Ai Qing, ein landesweit verehrter Maler und Dichter, wurde verbannt, war mehrere Jahre im Gefängnis, und auch Sie sassen in Haft. Welche Bedeutung hat Kunst in totalitären Staaten?
Kunst hat überall und immer dieselbe Bedeutung. Daran ändert ein politisches oder soziales System nichts.
Sie sagen, Ihre Arbeit hat in China denselben Stellenwert wie in einer Demokratie?
Wieso gebrauchen Sie den Begriff Demokratie? Was meinen Sie, wenn Sie Demokratie sagen? Ich verstehe Sie nicht.
Aber verstehe ich Sie, wenn Sie sagen, dass wir den Begriff Demokratie erst definieren sollten, bevor wir über ihn sprechen können?
Nein, ich sage, Sie verwenden einen Begriff, der absolut leer ist. Sie sagen Demokratie und wissen nicht, wovon Sie reden. Jeder Staat, jedes Land versteht unter Demokratie etwas völlig anderes. Vielleicht sogar etwas Gegensätzliches. Das Verständnis von Demokratie ist zudem auch abhängig von der Epoche und ihren Ereignissen. Es gibt keine Standard-Demokratie. Ich jedenfalls habe keine Definition dafür, aber ich weiss, dass wir dafür kämpfen müssen.
Ihre Prämisse vorausgesetzt und angenommen, China und Europa können sich nur in Schattierungen von Missverständnissen begegnen, wenn sie über Demokratie reden: Zu welchem Umgang mit Ihrem Land raten Sie dem Westen?
Der Westen und China interagieren miteinander wie ein Paar, das Sex hat. Beide wollen etwas voneinander. Jeder braucht den anderen in diesem System, das wir Globalisierung nennen. Der Westen hat China ja beigebracht, es gibt nichts anderes als Globalisierung. Es geht nur darum, ein noch besseres Business zu machen, noch höhere Profite und irgendwie gemeinsam zu überleben. Unter diesen Bedingungen muss jeder für sich das Beste machen.
Und es gibt keine Alternative? Sex ist ein menschliches Bedürfnis.
Die einzige Alternative ist, sich gegenseitig genau zuzuhören und beständig darauf zu pochen, dass es Grundwerte gibt, die in dieser Beziehung nicht Opfer sein dürfen: die Menschenrechte oder die Freiheit der Rede! Es sind diese essenziellen Werte und Gesetze, die geschützt werden müssen. Natürlich, der Westen kann sie einfordern, aber er sollte wissen: China wird niemals auf ihn hören. Die beiden verbindet nichts, ausser das gemeinsame Ziel, die Notwendigkeit, Profit zu machen – und zu überleben.
Sie sagen, die Forderungen des Westens, auch betreffend Menschenrechte werden von China niemals anerkannt?
China weiss sehr genau, was es tut. Es ist auf dem chinesischen Weg, und dieser funktioniert sei Tausenden von Jahren. Aus chinesischer Sicht hat sich bewiesen, dass ihr Weg für sie der beste sei. Weshalb soll es ihn verlassen?
China als Handelspartner des Westens wird nicht infrage gestellt. Ist der Westen genauso auf einem Auge blind gegenüber China, wie er es gegenüber Putin war? Wir wollten ja alle der Maxime glauben: Handel durch Wandel!
Der Westen ist nicht auf einem Auge blind. Er ist auf beiden Augen blind. Er unterschätzt seine Partner regelmässig.
Ist Ihre Heimat demokratischer geworden, seit Sie sie 2015 verlassen haben?
Nein (lacht), bei China geht es nie darum, ob es mehr oder weniger von etwas sei. China ist seit 3500 Jahren dasselbe geblieben. Wenn sich etwas ändert, dann nur an der Oberfläche. Aber im Innern hat sich China nie gewandelt.
Weil…
…weil der Kern von China das Konzept der «Chineseness» ist.
Und das heisst was?
«Chineseness» heisst, sich nicht ändern zu wollen. Es gibt nun einmal Menschen, die die Veränderung mögen, und es gibt Menschen, die sie ablehnen. Manche wechseln ihre Kleidung täglich, andere tragen das gleiche Jackett das ganze Jahr über. Und ich finde, beide haben recht. Sie haben zumindest so lange recht, wie sie sich auf ihrem eigenen Weg selbst erhalten können. Es kann auf diesem Weg Änderungen geben, Reformen, eine Revolution – oder das, was in China in den 1980er-Jahren geschah, als die Wirtschaft grosse Probleme hatte. Das kann zu Veränderungen führen, auch zur Öffnung. Aber der Westen braucht China so sehr, dass es dem Land immer wieder Gefälligkeiten zukommen lässt. Ob es nun seinen Weg geht oder nicht.
Was müsste in China denn passieren, damit sich das Regime nachhaltig – ich sage nicht «demokratisiert» – zur Wahrung von Menschenrechten bekennt?
Heute würde ich sagen: Sie müssten realisieren, dass ihr Baby ihnen über den Kopf gewachsen ist, und dass sie damit nicht mehr zurechtkommen.
Das ist eine poetische Metapher...
Auf äusseren Druck oder auf ein äusseres Ereignis wird China niemals zu einem Wandel bereit sein. Wenn Reform denkbar ist, dann muss sie aus anderen, aus inneren Gründen geschehen. Stellen Sie sich einen Fahrer vor, der schon lange unterwegs ist und der noch eine sehr lange Reise vor sich hat. Wenn etwas geschieht, wenn er müde ist, wenn er nicht mehr weiterkommt, weil beispielsweise der Wagen kaputt ist, wird er die Fahrt unterbrechen, ihn reparieren oder sich einen neuen Wagen besorgen. Er wird das Auto wechseln, aber niemals wechselt er seine Fahrstrecke.
Haben Kunstschaffende auf die Fahrt dieses Lenkers Einfluss? Können sie ihn beispielsweise zum Nachdenken bringen, ob die Richtung stimmt?
Meine Erfahrung ist, Kunst hat keinen Einfluss auf die Politik. Kunst sollte sich auch nicht mit politischen Belangen befassen, sondern mit sozialen und humanistischen Fragen. Sie soll zur Meinungsbildung beitragen und uns befähigen, darüber nachzudenken, wie wir unsere Entscheide fällen. In diesem Sinn ist Kunst mächtig.
Wie können Sie die politischen Konditionen von den sozialen Konditionen einer Gesellschaft trennen?
Man kann die beiden nicht voneinander trennen. Aber wenn wir von Veränderungen innerhalb eines weiten politischen Feldes oder eines Themas reden, dann hat die Kunst noch nie einen direkten Einfluss gehabt. Dann führt die Macht das Wort, und meistens ist das das Militär.
Experten meinen, ein chinesischer Angriff auf Taiwan wäre global folgenreicher als der Ukrainekrieg. Als wie realistisch beurteilen Sie die Möglichkeit einer Invasion?
Ich meine, China macht nur Lärm, um vom Westen mehr Aufmerksamkeit zu erhalten und weil sie deren Reaktion sehen wollen. Ich glaube, in China interessiert man sich nicht wirklich für Tawain, aber man will eine Replik darauf, was wäre, wenn man die Hand auf die Insel legte. Man benutzt Taiwan als Faustpfand, als Poker bei Verhandlungen.
Die offizielle Schweiz stellt sich auf den Standpunkt, innerhalb des Weltgeschehens politisch neutral sein zu wollen. Was halten Sie davon?
(Lacht) Neutral zu sein, ist immer eine gute Position. Aber in der Realität gibt es sie nicht. Wer sagt, dass er neutral sei, steht immer auf der Seite der Macht.
Nach Ihre Ausreise 2015 lebten Sie in Berlin, dann in England, heute in Portugal. Das ist ein unruhiges Leben. Fällt es Ihnen schwer, in Europa heimisch zu werden?
Wie meinen Sie das?
Sie sind aus Berlin wütend und enttäuscht ausgezogen, beschrieben die Stadt als langweiliger als die langweiligste chinesische Stadt, kritisierten die Unhöflichkeit der Menschen…
Das sind keine Vorurteile! Meine Erfahrungen mit dem Westen basieren auf meinem täglichen Leben hier. Berlin war nicht geeignet für mich. Nach meiner Ausreise aus China hatte ich dort mein erstes Atelier. Übrigens hatte sich damals der amerikanische Botschafter gemeldet und wollte wissen, wieso ich nach Deutschland und nicht in die USA emigriert sei. «Weil sich die Deutschen sehr dafür eingesetzt hatten, dass ich aus der Haft freikomme», war meine Antwort. «Das haben wir auch!,» meinte der Botschafter. «Danke dafür», sagte ich, «aber Deutschland hat mir ein Studio angeboten.» In diesem Sinn mag ich Berlin. Aber ich kann nicht dortbleiben, wenn sie mich zum Showcase, zum Vorzeigestück für antikommunistische Propaganda machen. Ich bin keine Antikommunist. Aber ich bin antiautoritär! In Deutschland und in den USA gibt es starke Autoritäten, in vielerlei Hinsicht sind Amerika und Deutschland autoritäre Staaten. Man mag nicht, wenn ich das kritisiere. Aber ich bin ein geborener Kritiker, und ich werde zugunsten von Komfort niemals auf Kritik verzichten. Ich hätte in Deutschland ein Held sein können. Aber brauche ich das?
Das Leben in Portugal, sie wohnen im Alentejo, entspricht Ihnen nun mehr?
Portugal nimmt seit dem 16. Jahrhundert ein Nickerchen. Das mag ich. Die Menschen sind freundlich und ihr Essen ist sehr gut. Ich werde mir dort ein Studio bauen. Nichts stört, das Leben ist entspannt. Und wir haben viel Sonne.
Sie bezeichnen sich als «globalen Obdachlosen». Kennen Sie den Wunsch nach Heimat nicht?
Ich habe keine Heimat. Habe ich den Wunsch danach? Ich spreche Chinesisch, habe einen chinesischen Pass, aber ich würde China nicht als Heimat bezeichnen. Im Jahr meiner Geburt wurde mein Vater in seiner sogenannten Heimat, dem Land, das er am meisten liebte, verhaftet. Seine schönsten Gedichte feiern die Heimat, sogar der Premierminister kann sie auswendig, so bekannt sind sie. Seine Heimat hat ihn 20 Jahre lang gefangen gehalten, misshandelt – ein Wunder, dass er überlebt hat. Wie kann man solches Land Heimat nennen? Man hat mir deutlich gesagt, dass ich nicht dorthin gehöre. Ich bin ein Volksfeind. Nun reise ich eben ausserhalb von China. Ich würde mir sehr wünschen, ich spräche Portugiesisch. Für mich klingt es dem Chinesischen sehr verwandt.
Ihr Lebensglück in Portugal ist Ihnen zu gönnen. Davon abgesehen, wann waren Sie in Ihrem Kampf für Menschenrechte das letzte Mal zufrieden und überzeugt?
Ich bin niemals zufrieden mit mir und mit meiner Arbeit. Deshalb kann ich auch nicht aufhören damit. (aargauerzeitung.ch)
Klingt zwar knackig, sagt aber überhaupt nichts aus. Weder über die Qualität der Paarbeziehung (Liebesbeziehung, toxische Beziehung, etc. ) noch über den Sex den sie haben.
Dann stehe ich somit besser zu China als meiner Frau?