Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA, sagte nach dem Sieg über die Engländer: «Ihr habt jetzt eine Republik – wenn ihr sie erhalten könnt.» Dieses Zitat wird heute gerne verwendet, um die Gefahr für die moderne amerikanische Demokratie zu illustrieren. Teilen Sie diese Befürchtung?
Jason Brennan: Es trifft zu, dass viele Menschen derzeit ein Unbehagen gegenüber der Demokratie hegen und sich nach einem starken Mann sehnen. Die populistischen Bewegungen, die wir weltweit sehen, werden als Gefahr für die Demokratie bezeichnet. Das erscheint auf den ersten Blick seltsam, denn gerade die Populisten sehen sich selbst als die wahren Demokraten, die gegen eine Elite ankämpfen, die sich weit von den Interessen des gemeinen Volks entfernt hat.
In der Einleitung zu der Taschenbuchausgabe Ihres Buches «Gegen die Demokratie» schreiben Sie, dass Donald Trump keine Gefahr für die amerikanische Demokratie darstelle. Das war 2017. Teilen Sie diese Einschätzung heute noch?
Ich stehe Trump sehr kritisch gegenüber. Er hat versucht, am 6. Januar 2021 die Demokratie auszuhebeln. Doch das System hat überlebt.
Derzeit scheint er jedoch gute Chancen zu haben, nochmals ins Weisse Haus zurückkehren zu können.
Das System hat jedoch einen starken Schock, eine Art Stresstest, überstanden. Das stimmt mich optimistisch für die Zukunft, denn eigentlich hat sich nichts verändert.
Zumindest die Rhetorik hat sich sehr stark verändert. Heute spricht Trump von «Rache» und «Vergeltung». Er bezeichnet seine Gegner als «Ungeziefer», und er will alle, die ihm angeblich Schaden zugefügt haben, gerichtlich verfolgen lassen. Das betrifft selbst ehemalige Mitarbeiter wie den Stabschef John Kelly oder den Justizminister William Barr.
Die Rhetorik hat sich tatsächlich zum Schlechten verändert. Doch diese Entwicklung hat schon vor Trump eingesetzt. Heute ist es so, dass die eine Seite des politischen Spektrums die andere als unrechtmässig betrachtet. Deshalb werden Niederlagen nicht mehr akzeptiert, sowohl von den Republikanern als auch von den Demokraten.
Die Demokraten haben immerhin noch keinen Staatsstreich versucht.
Das stimmt. Doch die amerikanische Politik war noch nie besonders friedlich. Historisch gesehen war es meist der Fall, dass ein Sieg der anderen Partei vom Verlierer infrage gestellt wurde.
Selbst die Gründerväter haben sich bekanntlich gegenseitig gehasst wie Gift.
O ja. Nur nach dem Zweiten Weltkrieg gab es ein paar Jahrzehnte, in denen die beiden Parteien pfleglich miteinander umgegangen sind. Deshalb kann man auch sagen: Was sich derzeit in der amerikanischen Politik abspielt, ist keine Ausnahme, es ist die Regel.
Einst waren die Eltern entsetzt, wenn ihre Kinder einen Partner aus einer anderen Religion oder mit einer anderen Hautfarbe heirateten. Heute löst es Entsetzen aus, wenn sie sich für einen Partner der anderen Partei entscheiden.
Das trifft tatsächlich zu. Doch man darf dies nicht allein Trump in die Schuhe schieben. Diese Entwicklung hat schon vor ihm begonnen.
Sie sind ein bekannter Kritiker der Demokratie, allerdings aus anderen Gründen. Ihr hauptsächliches Argument lautet: Die meisten Menschen sind schlicht zu dumm für die Demokratie. Darf man das so verkürzt zusammenfassen?
Dummheit ist nicht der richtige Ausdruck. Die Menschen sind grundsätzlich durchaus in der Lage, sich demokratisch zu organisieren. Doch im gegenwärtigen System erhalten sie die falschen Anreize. Sie erhalten das Gefühl, dass ihre Stimme so unbedeutend ist, dass sie diese nur noch als Symbol betrachten. Deshalb geben sie sich auch keine Mühe, sich zu informieren.
Was sind die Folgen?
Zumindest in den USA gleicht die Sympathie für eine politische Partei der Sympathie für einen Sportclub. Verkürzt lässt sich sagen: In den USA geht es in der Politik nicht mehr darum, politische Inhalte zu debattieren. Ich komme aus der Gegend von Boston und bin ein Fan der New England Patriots, einem Football-Team. Dieses Team hat 20 Jahre lang die Liga dominiert. Dieses Jahr spielen sie miserabel. Trotzdem mache ich in einer Facebook-Gruppe mit, in der wir uns gegenseitig trösten und sagen, alles wird wieder gut. Das ist eine völlig irrationale Verhaltensweise, aber wer nicht mitmacht, wird ausgegrenzt.
Als gebeutelter FCZ-Fan weiss ich, wovon Sie sprechen.
Als Fan muss man irrational handeln, wenn man ein Mitglied der Gruppe bleiben will. Wir müssen eine Entscheidung des Schiedsrichters gegen unser Team infrage stellen, selbst dann, wenn es offensichtlich ist, dass er korrekt gehandelt hat. Im Sport mag dies angehen, in der Politik haben wir damit ein Problem. Wenn Trump beispielsweise etwas sagt, das offensichtlich idiotisch ist, dann muss ich als Republikaner heute trotzdem zustimmen, sonst werde ich ausgegrenzt. Dasselbe kann man in extremer Form in totalitären Staaten beobachten. Wer in der UdSSR nicht der gleichen Meinung wie Stalin war, der lebte sehr gefährlich.
In einer Demokratie haben wir jedoch Meinungsfreiheit.
Doch wenn die einzelne Stimme nur noch symbolischen Wert hat, oder das zumindest so empfunden wird, dann besteht die Gefahr, dass diese Stimme nicht mehr dazu verwendet wird, die Regierung zu verbessern, sondern dass sie dazu dient, sich als Fan einer Partei zu outen.
Ich möchte Ihnen trotzdem ein Zitat aus Ihrem Buch vorlesen. Es lautet: «Die meisten meiner Mitbürger sind inkompetent, ignorant, irrational und verhalten sich unmoralisch, was die Politik betrifft. Trotzdem können sie mir ihren politischen Willen aufzwingen.» Das tönt schon ein bisschen elitär, oder nicht?
Ich will damit nicht ausdrücken, dass ich gescheiter bin als der Durchschnittsbürger und deswegen über ihn regieren darf.
Was wollen Sie denn damit ausdrücken?
Dass jeder, der ein Amt innehat und damit auch über Macht verfügt, beweisen sollte, dass er dafür auch kompetent ist.
Sie teilen die Wählerinnen und Wähler in drei Gruppen ein, Hobbits, Hooligans und Vulkanier. Können Sie das kurz erläutern?
In «Lord of the Rings» sind die Hobbits diejenigen, die sich nicht darum kümmern, was in Mittelerde geschieht. Sie leben ihr einfaches Leben und kümmern sich nicht um die Politik.
Aber sie werden zu Hooligans, wenn die Zeiten härter werden. Was ist damit gemeint?
Hooligans sind gut informiert, aber sie interpretieren alles zugunsten ihres Teams. Sie sind Eiferer und wollen, dass ihr Team um jeden Preis gewinnt. In den USA sind heute die meisten Menschen Hooligans. Sie umgeben sich mit Leuten, welche ihre Meinung teilen und haben keine Mühe, ihre Meinung über Nacht zu ändern.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Die Republikaner waren traditionell für den freien Handel. Trump hingegen ist ein Protektionist. Jetzt sind die meisten Republikaner ebenfalls zu Protektionisten geworden. Spricht man sie darauf an, dann antworten sie: Wovon sprichst du, ich bin immer ein Protektionist gewesen. Um nochmals den Vergleich mit dem Sport heranzuziehen: Wechselt ein Spieler den Club, dann wechselt die Einschätzung der Fans. Der grösste Spieler aller Zeiten kann dann postwendend zu einem Spieler werden, der immer überschätzt wurde.
Was hat man sich schliesslich unter einem Vulkanier vorzustellen?
Sie sind eine Art Ideal-Typus. Sie halten sich strikt an die Fakten und haben keine Vorurteile. In der Theorie sollten sich alle aufgeklärten Bürgerinnen und Bürger wie Vulkanier verhalten, in der Praxis verhalten sie sich wie Hobbits oder Hooligans.
Sie wollen dieses Problem mit einer Epistokratie lösen, einer Herrschaft der Wissenden. Wie soll das funktionieren?Demokratie ist für mich kein Selbstzweck, sondern ein Instrument, wie ein Hammer beispielsweise. Wenn es ein besseres Instrument geben sollte, dann sollten wir es auch benutzen.
Winston Churchill erklärte doch einst: Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen – ausser allen andern. Gilt das nicht mehr?
Doch, es gilt immer noch. Trotzdem gibt es Möglichkeiten, die Demokratie zu optimieren, beispielsweise mit Elementen aus einer Epistokratie.
Was heisst dies konkret?
Die demokratischen Institutionen werden grundsätzlich nicht angetastet. Ich würde sie jedoch gerne ergänzen mit etwas, das ich «enlightened preference voting» nenne. (Zu Deutsch: Übertragbare Einzelstimmgebung.) Das heisst: Am Wahltag dürfen alle wählen. Sie müssen jedoch zunächst bekannt geben, wer sie sind und was sie wollen. Und sie müssen eine Reihe von Fragen beantworten, sagen wir 30 Fragen. So können wir allmählich herausfiltern, was die Wähler wirklich wollen.
Uff, tönt sehr kompliziert. Was versprechen Sie sich davon?
Nehmen wir den Brexit. Ich behaupte nicht, dass der Brexit an sich etwas Schlechtes war. Gleichzeitig bin ich jedoch überzeugt, dass der Entscheid der Briten anders ausgefallen wäre, wären sie besser informiert gewesen. Wenn sie beispielsweise gewusst hätten, wie viel Geld nach Brüssel überwiesen wird, wie gross der Anteil der Immigranten an der Bevölkerung ist, etc.
Sie wollen somit die Wählerinnen und Wähler testen, bevor sie zur Urne schreiten dürfen?
In gewisser Hinsicht ja. Nehmen Sie ein anderes Beispiel: Die meisten Amerikaner sind überzeugt, dass die Kriminalität der Mexikaner deutlich höher ist als diejenige der Einheimischen und lehnen deshalb die Immigration vehement ab. Dabei beträgt die Kriminalität der Immigranten bloss ein Drittel der Einheimischen.
Solche Tests können indes auch missbraucht werden. In der Jim-Crow-Ära, der Zeit, als in den USA die demokratischen Rechte der Schwarzen unterdrückt wurden, wurden genau solche Tests verwendet.
Das Problem bestand nicht in den Tests an sich, sondern darin, dass nur die Schwarzen sie absolvieren mussten. Hätten auch die Weissen diesen Test machen müssen, dann hätte das Resultat paradoxerweise wahrscheinlich darin bestanden, dass die Jim-Crow-Gesetze viel früher abgeschafft worden wären, weil die Mehrheit derer, die den Test bestanden hätten, sich für die Absetzung dieser Gesetze eingesetzt hätte. Heute muss in den USA nur noch der einen solchen Test absolvieren, der sich einbürgern lassen will. Viele in den USA Geborenen würden diesen Test kaum bestehen.
Das trifft auch für die Schweiz zu.
Eben. Weshalb also verlangen wir also nicht von allen, dass sie einen solchen Test absolvieren?
Wir in der Schweiz haben seit 175 Jahren eine gut funktionierende Demokratie, vor allem auch, seit das Recht auf Initiative und Referendum eingeführt wurde. Die Schweizer sind wahrscheinlich nicht grundsätzlich klüger als die Amerikaner. Weshalb wird also die direkte Demokratie nicht von den USA kopiert?
Ich kenne das Problem. Die Schweiz wird immer wieder als Vorbild genannt, selbst wenn ich nicht in der Schweiz bin. Was macht die Schweiz besser? Ist es die Grösse des Landes? Sind es die verschiedenen Sprachen? Keine dieser Antworten trifft eindeutig zu. Belgien hat verschiedene Sprachen, und das System funktioniert nicht. In Kalifornien haben wir ebenfalls eine Art von direkter Demokratie, und es funktioniert ebenfalls nicht. Warum es in der Schweiz funktioniert, ist eine noch nicht beantwortete Frage in der Politologie. Ich auf jeden Fall kenne die Antwort nicht.
Kehren wir zurück zur Frage der Epistokratie. Autoritäre Führer wie Wladimir Putin oder Viktor Orbán dürften ein Fan davon sein, sie haben ja, was sie eine «gelenkte Demokratie» nennen.
Russland geht es sehr schlecht, offenbar funktioniert diese «gelenkte Demokratie» nicht so gut. Autoritäre Führer wollen sich legitimieren und greifen zu jedem Mittel. Doch das System Putin hat nichts gemein mit dem, was ich unter einer Epistokratie verstehe. Wenn die Macht in den Händen von ein paar Wenigen liegt, dann missbrauchen sie diese Macht für egoistische Ziele. Putin ist sehr geschickt, wenn es darum geht, die eigenen Interessen durchzusetzen. Er sitzt seit langem an der Macht und ist wahrscheinlich der reichste Mann der Welt.
Der Leitsatz der «Washington Post» lautet: «Die Demokratie stirbt, wenn es dunkel wird.» Trifft dies Ihrer Meinung nach zu?
Es ist ein hübscher Satz, aber ich würde es anders formulieren.
Nämlich?
«Die Demokratie stirbt im Feuer.» Die Menschen lehnen die Demokratie ab, wenn die Gesellschaft in eine Krise gerät. Denken Sie bloss daran, was während der Pandemie geschehen ist. Rund um den Globus wurden auch in demokratischen Nationen über Nacht Notgesetze angerufen, und die Regierungen setzten Massnahmen durch, die nicht demokratisch legitimiert waren. Viele dieser Massnahmen sollten sich später als Fehleinschätzungen erweisen, beispielsweise die Schliessung der Schulen.
Das kann man rückblickend so sehen, doch damals war dies alles andere als offensichtlich.
Mag sein. Trotzdem fragten sich selbst Demokratie-kritische Menschen wie ich: Hey, was ist mit dem Rechtsstaat? Doch was ich betonen will: Demokratien brechen in Krisenzeiten zusammen. Der Untergang der Weimarer Republik und der Aufstieg des Faschismus sind das bezeichnende Beispiel dafür. Daher finde ich den Spruch, die Demokratie sterbe im Dunkeln, irreführend. Sie verschwindet nicht einfach so von der Bühne. Die Demokratie geht in einem Feuerball unter.
Trotz aller Mängel ist die Demokratie, in der alle das uneingeschränkte Wahlrecht haben, die beste Regierungsform.
Um Platons Ideal der Philosophenherrschaft nahe zu kommen, braucht es vor allem eines: Bildung!
Kein Wunder dass die Feinde der Demokratie wie die SVP bei der Bildung sparen wollen. Sie wissen genau was sie damit anrichten.
Nur eine funktionierende Demokratie kann dieses Problem lösen. Wenn aber immer mehr Menschen für die Populisten wählen, wird es nur schlimmer.