Wie bewerten Sie aus Sicht des Polizeiwissenschafters den Einsatz in Chemnitz von Montag?
Tobias Singelnstein: Offensichtlich haben Politik und Polizei die konkrete Versammlung im Vorfeld massiv unterschätzt. Man muss sich fragen, wie das sein kann. Die Anzeichen waren ja deutlich, dass es eine grosse Veranstaltung wird. Und auch das Mobilisierungspotential war den Behörden bekannt. Es ist eigentlich unverständlich.
Beobachter monieren, dass die Polizei in Sachsen auf dem rechten Auge zumindest sehschwach ist.
Ja, es entsteht der Eindruck, dass rechtsxtreme Veranstaltungen in Sachsen nicht besonders ernst genommen werden. Das ist aber auch und vor allem ein politisches Problem.
Ganz im Gegensatz zu Demonstrationen von Linken und Antifaschisten. Da wird auch mal härter durchgegriffen, wie zuletzt etwa bei einer Antifa-Demo in Wurzen, als das Spezialkommando SEK aufgeboten wurde. Aus linken Kreisen hört man, dass die Ankündigung von Gegendemos gegen Aufmärsche von Rechtsextremen bewusst dazu dient, ein angemessenes Polizeiaufgebot zu provozieren. Ohne die Antifa, so die Überlegung, rührt sich die Polizei nicht.
Ja, das alles zeigt, dass die Polizei durchaus die Mittel dazu hätte. Nur fehlt der politische Wille.
Wieso fasst man Rechtsextreme in Sachsen mit Samthandschuhen an?
Offensichtlich wird in Teilen der Politik und der Polizei Rechtsextremismus nicht adäquat eingeschätzt und als Gefahr nicht hinreichend ernst genommen.
Sogar der Verfassungsschutz hatte im Vorfeld von Chemnitz gewarnt ...
Ja, der Verfassungsschutz meldete, dass die Veranstaltung eine bundesweite Dimension bekommen könnte und Mitglieder der rechtsextremen Szene aus verschiedenen Bundesländern anreisen könnten. Man kann das eigentlich nicht mehr als Fehleinschätzung der Behörden abtun.
Offenbar wurde ein Haftbefehl eines mutmasslichen Täters im Mordfall in Chemnitz an die AfD geleakt. Auch sonst gab und gibt es immer wieder Verbindungen zwischen Behörden und rechten Gruppierungen: Der LKA-Mitarbeiter, der bei einer AfD-Demo mitläuft, Polizisten, die Journalisten bei der Arbeit behindern, die Verbindungen im NSU-Fall: Hat die Polizei in Sachsen ein Rechtsextremismus-Problem?
Bei Teilen der Polizei gibt es eindeutig Sympathien für rechte Positionen, zum Teil sogar auch für das rechtsextreme Spektrum. In Sachsen ist das offenbar besonders ausgeprägt.
Inwiefern?
Sachsen hat schon lange eine erhebliche Neonazi-Szene. Es war das erste Bundesland, in dem die NPD nach den 1960er-Jahren wieder in ein Landesparlament gewählt wurde. Und es ist das Bundesland, in dem die AfD heute am stärksten ist. Man kann sagen, rechtsextreme Positionen sind dort so etabliert wie sonst nirgendwo in Deutschland.
Auch die CDU tut sich schwer damit, sich von der AfD abzugrenzen. Man will potenzielle Wähler nicht verprellen.
Ja, die Verbindungen sind dort so gross wie in kaum einem anderen Bundesland.
Da ist Sachsen aber kein Einzelfall.
Nein, auch bei der Polizei nicht: Es ist deutschlandweit so, dass Teile der Polizei eine besondere Affinität für rechte Positionen aufweisen. Das war schon in den 1980er-Jahren so mit den Republikanern, und das ist heute so mit der AfD.
Man hört immer wieder, die Polizei sei ein «Spiegel der Gesellschaft». Muss man also einfach damit rechnen, dass circa 10 Prozent der Polizisten eine rechtsextreme Einstellung haben?
Die Polizei ist eben gerade nicht ein Spiegel der Gesellschaft, das ist ein falsches Bild. Sie ist zwar als Institution sehr vielfältig und divers, aber es finden sich dort eben nicht alle gesellschaftlichen Schichten und Gruppen in der gleichen Verteilung wie in der Gesellschaft. Zugleich scheint es einerseits so, dass die Tätigkeit in der Polizei bestimmte Gruppen besonders anzieht. Andererseits prägt die berufliche Tätigkeit, bei der es darum geht, Recht und Ordnung zu garantieren, in einer bestimmten Weise.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer kündigte an, die Straftäter in Chemnitz mit aller Härte zu verfolgen. Wird man auch tiefergreifende Reformen in Angriff nehmen?
Ich hoffe, dass man in Sachsen erkennt, dass ein Ereignis wie Chemnitz eine Zäsur bedeuten muss. Allerdings sind meine Erwartungen nicht allzu gross.
Wieso?
Weil die CDU in Sachsen die offene Flanke nach rechts nicht einfach so schliessen kann und wird. Das Problem ist tief verwurzelt und lange gewachsen. Es gibt Äusserungen von sächsischen Politikern, mit denen man anderswo isoliert wäre. In Sachsen regen sich nur wenige darüber auf.
Die Verwendung «verfassungswidriger Kennzeichen» ist in Deutschland verboten. Auf Videos in Chemnitz war aber zu sehen, dass Polizisten mehrmals nicht gehandelt haben, als Personen den Hitlergruss tätigten. Was löst das für ein Signal in der Öffentlichkeit aus?
Das Geschehen in Chemnitz wirft ein Schlaglicht auf die Situation des Rechtsextremismus in Deutschland und insbesondere in Sachsen. Dass die Polizei die Szene hat gewähren lassen ist ein fatales Signal. Das betrifft nicht nur die Hitlergrüsse, sondern auch die Drohungen gegen Journalisten und die Hetzjagd auf vermeintliche Migranten. Die rechtsextreme Szene geht aus all dem deutlich gestärkt hervor.
Sie haben vorhin die Diversität innerhalb der Polizei erwähnt. Bräuchte es ein durchmischteres Polizeipersonal? Mehr Frauen? Mehr Leute mit Migrationshintergrund?
Das hätte bestimmt einen Effekt und es wäre auch zu begrüssen. Nur: In Sachsen gibt es allerdings nur vergleichsweise wenige Menschen mit Migrationshintergrund.
Müssen Polizisten in der Ausbildung mehr sensibilisiert werden auf politische und gesellschaftliche Themen wie Rassismus, Migration, Minderheiten usw.?
Ja, da kann die Polizei noch eine Menge tun, wie wir insbesondere auch bei den Ermittlungen zum NSU gesehen haben. Meines Erachtens ist aber weniger die Ausbildung das Problem, sondern die anschliessende polizeiliche Praxis.
Was heisst das?
Wenn die Leute von der Ausbildung in die Dienststelle kommen, dann gelten da eigene Regeln. Frische Absolventen treffen in den Dienststellen auf eine Praxis und Mentalität, die geprägt werden von Leuten, die zum Teil schon jahrzehntelang Dienst verrichten. Die hierarchischen Strukturen fördern da eine gewisse Polizeikultur.
Die sogenannte «Cop Culture», die auch eine «Mauer des Schweigens» beinhaltet. Polizisten machen keine Fehler, so das Credo.
Ja, aber man muss das auch in den Kontext setzen: Polizeibeamte agieren immer in der Gruppe und sind mitunter gefährlichen Situationen ausgesetzt. Dabei sind sie darauf angewiesen, sich gegenseitig den Rücken freizuhalten. Diese besondere Verbundenheit macht es natürlich schwer, Fehler transparent zu machen und Kollegen anzuschwärzen. Zumal erhebliche Teile der Politik die Polizei in dieser «Wir machen keine Fehler»-Haltung unterstützt.
Weshalb?
Naja, es ist immer schwierig, Politik gegen die Polizei zu machen. Kein Innenminister kann sich das leisten, er braucht die Polizei, sie ist eines seiner wichtigsten Handlungsorgane und ihre Fehler fallen auch auf ihn zurück.
Also ist es illusorisch, die Mentalität innerhalb der Polizei verändern zu wollen?
Kurzfristig ist das extrem schwierig, ja. Man kann zwar Leute versetzen, und so einen personellen Austausch erzwingen, aber die Polizei und die jeweiligen Dienststellen sind Institutionen, wo bestimmte Praxen, Werte und Einstellungen tradiert werden.
In der Schweiz wird gegenwärtig über den Einsatz von Bodycams diskutiert. Gerade die Polizisten äussern sich aber vorsichtig zur Einführung. Weil eigene Fehler so leichter an die Öffentlichkeit dringen könnten, spekulieren böse Zungen.
In Deutschland wird auch darüber diskutiert, in verschiedenen Bundesländern sind sie bereits eingeführt oder laufen Pilotprojekte. Die Polizeien sind aber aus meiner Sicht relativ aufgeschlossen und schätzen es nicht als Bedrohung ein. Nicht zuletzt, weil die Beamten selber entscheiden, was und wann sie Bilder aufnehmen.
Aus Chemnitz existieren unzählige Bilder und Videos, Handykameras sind überall präsent. Hat die Allgegenwärtigkeit von Bildern und Videoaufnahmen eigentlich zu einer Änderung in der Polizeiarbeit geführt?
Ja, die Deutungshoheit der Polizei über strittige Situationen wird damit ein Stück weit in Frage gestellt. Die Polizei kann im Nachhinein ihre Sicht der Geschehnisse nicht mehr so einfach durchsetzen und Fehlverhalten von Polizisten kann besser geahndet werden. Die Allgegenwärtigkeit von Handykameras führt so zu einer zusätzlichen Kontrolle der polizeilichen Tätigkeit. Aus Sicht eines Teils der Polizei ist das ein Problem, tatsächlich ermöglicht es aber eine bessere rechtsstaatliche Kontrolle der Polizeiarbeit.