Herr Weber, Sie sind Deutscher, leben aber seit vielen Jahren in Grossbritannien; nun erreiche ich Sie in Kalifornien. Verfolgen Sie den Wahlkampf in Ihrem Heimatland intensiv?
Thomas Weber: Ja, und mir fällt auf, wie wenig die Deutschen über die Grenzen ihres Landes hinausschauen. Populismus und Extremismus sind überall im Aufwind, Migration ist in vielen Ländern das beherrschende Thema. In Deutschland wird gerade fast alles über das Scheitern der «Ampel» oder die Politik Angela Merkels erklärt. Dabei haben andere Länder die gleichen Probleme.
Sie beklagen eine Krisenwahrnehmung, von der Parteien wie die AfD profitierten. Das klingt, als hielten Sie vor allem die Sichtweise vieler Wähler für das eigentliche Problem und weniger die Krise selbst.
Natürlich gibt es Probleme. Dennoch leben wir in der besten Welt, die es je gab. Aber viele glauben, alles werde immer schlechter. Dabei wird auf die Migration fokussiert, und man tut so, als ob alles gut würde, wenn dieses eine Problem gelöst wäre. Das ist in ganz Europa und Amerika so. Dass in Zeiten der Krisenwahrnehmung eine Art Tribalismus einsetzt und man sich abschotten will, ist normal, aber brandgefährlich.
Sind die Medien schuld, weil sie ständig über Probleme reden?
Ja. Die AfD, der Islamische Staat (IS) und Wladimir Putin haben durch Desinformation, geschickte Demagogie und Infiltrationsaktionen ein Theater der Angst zur Migration errichtet. Anstatt mässigend zu wirken, die Resilienz der Gesellschaft zu betonen und einfach unaufgeregt die wirklichen Probleme der Migration zu lösen, führen zu viele Journalisten, Politiker und Wissenschafter diesem Theater ständig neues Publikum zu. Sie schüren so ungewollt öffentliche Unruhen und Panik und werden zu nützlichen Idioten der AfD, des Kremls und des IS. Hier liegt ein kollektives Versagen weiter Teile der Medien, der Politik und der Wissenschaft vor.
Manche meinen, etablierte Parteien stärkten populistische und extremistische Kräfte, indem sie deren Gewinnerthemen bewirtschafteten. Ich nehme an, Sie neigen ebenfalls dieser These zu.
Ja, und es gibt auch Studien, die dies belegen. In den Niederlanden lag Geert Wilders' PVV im letzten Wahlkampf lange Zeit auf Platz vier oder fünf; erst als auch andere Parteien die Asylpolitik zum beherrschenden Thema erklärten, schob sie sich auf Platz eins vor. Das heisst aber nicht, dass ein Politiker wie Friedrich Merz ein Problem nicht ansprechen sollte, wenn er davon überzeugt ist, dass es besteht. Man muss so etwas aber selbstbewusst angehen und nicht als Reaktion auf Erfolge der AfD.
Die jüngsten Umfragen in Deutschland scheinen Ihre These nicht zu bestätigen. Nach Merz' Manöver im Bundestag, bei dem er die Zustimmung der AfD in Kauf nahm, sind die Zahlen ungefähr gleich geblieben. Dabei hätte man nach dem Anschlag von Aschaffenburg erwarten können, dass die AfD weiter zulegt.
Ich bin mir nicht sicher, ob Sie recht haben. Dass sich nach dem Attentat in den Umfragen nicht viel verändert hat, könnte auch nach all den vorherigen Anschlägen auf eine gewisse Abstumpfung hindeuten. Ich glaube, die Zahlen wären nicht viel anders, wenn Merz sich anders verhalten hätte. Er hätte seine Position auch deutlich machen können, ohne diese Vorlagen einzubringen, etwa, indem er gesagt hätte: Hier sind meine Ziele für die ersten 100 Tage im Amt, und jede demokratische Partei, die mit mir koalieren will, muss Antworten darauf finden. Ich glaube, Merz hat so gehandelt, wie er gehandelt hat, weil ihn das ganze Brandmauer-Gerede nervte.
Sie trauen Merz also nicht, wenn er eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschliesst?
Doch, ich glaube ihm, wenn er eine Koalition ausschliesst. Aber bei Sachentscheidungen kann er sich vermutlich vorstellen, auch künftig etwas mit den Stimmen der AfD durchzubringen. Dafür wäre schliesslich keine Koalition erforderlich. Was Merz wohl gegen den Strich geht, ist, dass manche sein Vorgehen bereits für eine Zusammenarbeit mit der AfD halten und glauben, er stärke die AfD dadurch.
Mich hat überrascht, wie geschlossen die CDU hinter Merz stand. Ich hätte mehr Kritik aus den eigenen Reihen erwartet.
Vermutlich liegt es am Wahlkampf: Eine zerstrittene Partei wird fast nie gewählt, das haben wir 2021 gesehen, als der Streit zwischen Armin Laschet und Markus Söder die Union belastete. Die Zutaten für einen Konflikt sind auch jetzt vorhanden: CDU-Politiker wie Hendrik Wüst und Daniel Günther wollen der Öffentlichkeit zeigen, dass die Union mit den Grünen regieren kann. Damit entwerfen sie eine positive Zukunftsvision. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit einer schwarz-grünen Koalition nach der Wahl ja sehr gross. Auch Markus Söder, der jetzt auf die Grünen schimpft, wird sich dann von einem Tag auf den anderen neu positionieren.
Merz dürfte sich zugutehalten, mit seinem Vorgehen im Bundestag Druck auf potenzielle Koalitionspartner ausgeübt zu haben.
Das mag sein, und vielleicht hat er damit ja auch Erfolg. Dann hätte sich sein Vorgehen ausgezahlt. Aber insgesamt sehe ich darin eher Gefahren als Chancen, auch weil einmal mehr der Eindruck erweckt wird, Migration sei das einzige grosse Problem.
Wo liegen aus Ihrer Sicht die grössten Probleme, denen sich der nächste Kanzler annehmen müsste?
Vor allem in der internationalen Sicherheitspolitik. Und dann müsste man überlegen, wie man wieder für Wirtschaftswachstum und Innovationen sorgt. Da ist Deutschland nur noch Mittelmass. Beide Fragen hängen zusammen: Dass es dem Land lange Zeit gut ging, hing auch mit billigen Energieimporten aus Russland und mit Exporten nach China und Amerika zusammen. Nun ist das russische Gas weg, und die Spannungen mit China und den USA nehmen zu. Auch die Klimafrage müsste die nächste Regierung umtreiben.
Sind Sie zuversichtlich, dass die massgeblichen Politiker dies ähnlich sehen? Merz wird zumindest nachgesagt, er hätte lieber einen Wahlkampf über Wirtschaft als über Migration geführt.
Was das betrifft, bin ich relativ optimistisch. Die grössten Schnittmengen, wenn es um die Lösung dieser Fragen geht, sehe ich zwischen der Union und den Grünen: Sie haben am ehesten verstanden, dass es Innovationen braucht und dass sich die geopolitische Lage grundlegend geändert hat. Merz könnte das Land zusammen mit den Grünen aus der Krise führen. Bei den Sozialdemokraten sehe ich gerade, wenn es um Russland geht, nicht immer die nötige Einsicht.
Sie hängen erklärtermassen der Ansicht an, dass man aus der Geschichte Handlungsanweisungen für die Gegenwart ableiten könne. Als Vorbild haben Sie die Niederlande der 1930er-Jahre genannt, wo das Establishment eine klare Ausgrenzungspolitik gegenüber rechten Extremisten betrieben habe. Demnach macht das deutsche Establishment aus Ihrer Sicht heute wohl vieles richtig.
Ja. Gelegentlich kommt auf mein Beispiel der Einwand, die Niederlande hätten keinen Weltkrieg verloren. Aber darum geht es nicht: Es geht darum, Fälle zu betrachten, in denen die Demokratie auf der Kippe stand, aber anders als in Deutschland überlebt hat. Man hat diese rechten Parteien in den Niederlanden nicht verboten, wodurch ein Überdruckventil erhalten blieb. Einige Angehörige des Establishments sympathisierten im Privaten mit ihnen, aber öffentlich gingen sie demonstrativ auf Distanz. Dadurch gelang es, aggressive Gegner der Demokratie kleinzuhalten.
Manche meinen, die AfD habe sich durch die Ausgrenzung weiter radikalisiert, auch weil man gemässigte Mitglieder dazu gebracht habe, die Partei zu verlassen. Das würde gegen diese Strategie sprechen.
Dass solche Parteien sich mässigen würden, weil man sie einbindet, halte ich für Wunschdenken. Von Hitler hat man das Gleiche gesagt; von der AfD weiss man, dass sich ihre Mitglieder hinter den Kulissen noch viel radikaler äussern als in der Öffentlichkeit. Man sollte ernst nehmen, was Björn Höcke sagt. Wilders' PVV hat sich in der Regierung nicht gemässigt, sondern setzt ihren moderateren Koalitionspartnern permanent die Pistole auf die Brust, indem sie mit einem Ende der Koalition droht, sollte sie ihre Ziele nicht durchsetzen können.
Was unterscheidet die AfD von anderen rechten Parteien in Europa? Ist sie gefährlicher oder scheint dies nur so, weil wir ständig die deutsche Geschichte im Hinterkopf haben?
Dass sich eine solche Partei etabliert hat, ist ein Stück europäische Normalität. Die AfD begann sogar moderater als andere rechte Parteien, radikalisierte sich dann aber sehr viel stärker, weshalb sie heute im EU-Parlament isoliert ist. Ob das so bleibt, ist fraglich: Vor einiger Zeit hat Viktor Orbán Alice Weidel empfangen, was darauf hindeutet, dass die AfD wieder in die Bewegung aufgenommen werden könnte. Vielleicht positioniert sie sich auch als deutsche Elon-Musk-Partei und Teil einer neuen «Make Europe Great Again»-Bewegung. Trump und Musk haben Rechtsaussen-Parteien wählbarer gemacht; auf einmal wirken sie modern und innovativ. Ein neuer und radikaler Weltgeist macht sich breit.
Das Bizarre wird normal?
Ja. Und für manche wird es auch cool. Musk steht für viele für Fortschritt. Und so meinen einige, auch die AfD stehe für Fortschritt.