Es ist eine Zäsur, was am 25. Juni 2023 im Thüringer Wahlkreis Sonneberg geschieht. Der neue Landrat heisst Robert Sesselmann. Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands wird ein Landkreis von einem AfD-Politiker regiert.
Die Aufregung ist gross. Medien aus aller Welt berichten über den Tabubruch im Süden Thüringens. Alle wollen von der Sonneberger Bevölkerung wissen, wie es so weit kommen konnte. Und was die, die ihn wählten, an Robert Sesselmann überzeugt hat.
Seither sind eineinhalb Jahre vergangen. Hat sich unter Sesselmann in Sonneberg etwas verändert? Spürt die Bevölkerung, dass ein AfD-Politiker die Zügel in der Hand hält? watson ist hingefahren und hat mit den Menschen gesprochen.
Louis Räder beisst in Sonneberg derzeit auf hartes Brot. Im vergangenen Sommer wurde der Grundschullehrer für die SPD in den Sonneberger Kreistag, also das kommunale Parlament, gewählt. Räder sagt:
Die SPD hat gemeinsam mit der Linken eine Fraktion gebildet, sie kommt auf 5 von insgesamt 40 Sitzen im Kreistag.
Ganz anders die Situation bei der AfD: Nach Sesselmanns Erfolg ging die Alternative für Deutschland auch bei der Kreistagswahl als grosse Siegerin hervor. Plus 10,7 Prozent Wähleranteil gegenüber 2019, die AfD stellt 14 von 40 Abgeordneten.
Seit einem halben Jahr tagt der neugewählte Kreistag. Bislang brachte die SPD-Fraktion tatsächlich keinen einzigen Vorstoss durch.
An Standaktionen und auf Social Media werden Räder und seine SPD-Mitstreiter auch mal als Verräter und Dreckschweine beschimpft. Es gibt angenehmere Aufgaben, als in der AfD-Hochburg Thüringen für sozialdemokratische Anliegen einzustehen.
Szenewechsel. Zwei Stunden früher. Ein grauer, kalter und nasser Dienstagmittag in Sonneberg, der gleichnamigen Kreisstadt. Senioren erledigen an der Bahnhofstrasse ihre Einkäufe, einige Mütter sind mit ihren Kindern unterwegs, in der Mitte eines kleinen Platzes hat die «Brotkultur-Pur» ihren mobilen Verkaufswagen platziert.
Winfried Töpfer hat gerade für 25 Euro Medikamente eingekauft. Der 76-Jährige ist pensionierter Diplomingenieur und in Sonneberg aufgewachsen.
Seitdem Sesselmann im Amt sei, habe sich in Sonneberg nichts gross verändert, erzählt Töpfer. Ausser einer Sache: die Flüchtlinge, die seien mehr geworden:
Töpfer stört sich daran, dass Asylsuchende in Sonneberg alles bezahlt bekommen und keiner beruflichen Tätigkeit nachgehen.
Gleichzeitig nervt er sich über die vielen von Ausländern betriebenen Dönerläden in der Stadt. Dass diese Menschen arbeiten, Steuern und Sozialabgaben entrichten, mag Töpfer nicht gelten lassen:
Bei der anstehenden Bundestagswahl könne er sich gut vorstellen, die AfD zu wählen, sagt Töpfer. «Wieso nicht?» Etwas findet er dabei nicht in Ordnung: «Wenn ich die AfD wählen würde, bin ich für alle anderen Parteien ein Nazi. Warum bin ich das? Dieser Ausdruck ist schlimm, das hat doch gar nichts damit zu tun.»
Nebst Winfried Töpfer trotzt auch Herbert Schneider* dem miesen Wetter. Der Frührentner will zunächst nichts sagen, teilt beim Vorbeigehen nur mit, dass er blau wählt. Also die AfD. Dann bleibt er trotzdem stehen und redet sich fast zehn Minuten in Rage.
Früher sei er nicht an die Urne gegangen, doch genug sei genug, erzählt Schneider. Vor eineinhalb Jahren habe er den AfD-Vertreter Robert Sesselmann gewählt, gebessert habe sich seither jedoch nichts. Schuld in den Augen Schneiders: das Thüringer Landesparlament.
Dort war die AfD im vergangenen Sommer zwar klare Wahlsiegerin, weil jedoch niemand mit ihr zusammenarbeiten möchte, regiert nun – ohne eigene Mehrheit – eine Koalition aus CDU, SPD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW).
«So kann Sesselmann nichts bewegen», erklärt Schneider ernüchtert. Er teilt die Meinung von Winfried Töpfer: «Es wird hier laufend geklaut. Die Migranten, die da sind, arbeiten nicht und kriegen trotzdem alles bezahlt.» Die Lösung des 63-Jährigen:
Stört ihn, dass die AfD gemäss Verfassungsschutz in Teilen als gesichert rechtsextrem gilt? «Überhaupt nicht», antwortet Schneider sofort. «Das wird bloss so hingestellt.» Die jetzige Regierung hat Angst, dass, wenn die AfD an die Macht kommt, der ganze Betrug an diesem Land aufgedeckt würde.»
Es sind Sätze, wie man sie im rechten Lager häufig hört. Schneider geht gar noch weiter, lässt seinem Ärger bei 0 Grad Celsius und Nieselregen freien Lauf:
Was hält SPD-Mann Louis Räder von den Aussagen der beiden Rentner? Die Ansicht, dass Landrat Sesselmann alleine politisch nichts ausrichten könne, teilt er nur bedingt. Sesselmann und sein Stellvertreter – auch er aus dem Lager der AfD – trimmten die Kreisverwaltung des Landkreises auf AfD-Kurs. Räder sagt:
Bei der Migration etwa würden Mittel gekürzt, wo es nur ginge. Sesselmann nutze die Kompetenzen seines Landkreises maximal aus.
Natürlich braucht es bei konkreten Vorstössen im Kreistag eine Mehrheit. Die kommt dank der Stärke der AfD und der Unterstützung einer zweiten Fraktion jedoch oft zustande.
Diese besteht aus der «Pro Son», einer Gruppierung, die sich von der CDU abgespaltet hat. Hinzu kommen zwei Abgeordnete einer Freien Wählergemeinschaft und einer von der FDP. Gemeinsam mit der AfD sind das über 20 Stimmen und damit eine absolute Mehrheit im Sonneberger Kreistag.
Auch mit dem Vorwurf von Töpfer und Schneider, wonach Asylsuchende in Sonneberg nicht arbeiten und alles erhalten, kann Räder nichts anfangen:
Sehe man sie den Tag durch auf der Strasse, habe dies seine Gründe: «Auch Asylsuchende müssen einkaufen gehen, also machen sie es am Vor- oder Nachmittag, wenn die Läden leer sind.» Der 26-Jährige betont: «Ich habe noch nie von einem Migranten etwas Negatives auf der Strasse mitbekommen.»
Das sieht Manuela Jung* diametral anders. Sie hat gerade bei der «Brotkultur-Pur» eingekauft, als sie für ein kurzes Gespräch anhält. Jung fühlt sich auf den Strassen Sonnebergs nicht mehr wohl. Die einzige wählbare Partei sei für sie die AfD, alle anderen seien «ganz schlimm und verlogen».
Friedrich Merz, Deutschlands designierter Kanzler, habe gesagt, Deutschland sei schon immer ein Einwanderungsland gewesen. «Was soll das? Das ist doch pur gelogen», sagt Jung. Und fügt an:
Es kämen die Falschen nach Deutschland. «Junge Männer, im besten Alter, mit ihrem Rollköfferchen.» Gleichzeitig würden «Milliarden von Geldern einfach in der Welt verteilt». Darum wünscht sich Jung für die Bundestagswahl 25 Prozent AfD-Wähleranteil und Alice Weidel als Bundeskanzlerin.
SPD-Politiker Räder mag die Pauschalisierung, sich auf den Sonneberger Strassen nicht mehr wohlzufühlen, nicht unkommentiert lassen. Das sei ein Grundgefühl, welches durch AfD und CDU angeheizt werde:
Für Räder ist und bleibt Deutschland ein Einwanderungsland. Die Türken seien etwa in den 1970ern als Gastarbeiter hergekommen, heute würden die meisten Migranten durch Krieg zur Flucht gezwungen. «Diese Menschen müssen und wollen wir unterstützen.»
Nebst den beiden Rentnern und Manuela Jung trifft man in Sonneberg auch etwas gemässigtere Wähler an. Nicholas Kunz läuft gerade am Kiosk «Wunder’s Hüttla» vorbei, als er sich bereit erklärt, Auskunft zu geben.
Der 25-Jährige hat Sesselmann zwar nicht gewählt, aber gehört, dass der Landrat «ganz gute Arbeit macht». Aufgrund der restriktiven Asylpolitik komme die AfD für ihn «auf gar keinen Fall» infrage, die Partei sei ein «No-Go». Doch alles findet Kunz an den Blauen auch nicht schlecht.
«Ich stimme mit der AfD überein, dass wir deutlich stärker kontrollieren müssen, wen wir im Land haben», führt er aus. Deutschland solle Menschen, die aus einem Kriegsgebiet stammten, eine faire Chance geben, weil sie diese verdient hätten.
Kunz stammt aus einer Familie, die traditionell CDU wählt. Wem er bei der anstehenden Bundestagswahl seine Stimme geben wird, weiss er trotzdem noch nicht. «Ich unterstütze, dass christliche Werte wieder gefördert werden in Deutschland, die sind in den letzten Jahren stark zurückgegangen.» Auch dass die Ehe als eine Verbindung zwischen Mann und Frau gefördert werde, «ist für mich als Christ wichtig», so Kunz.
Es ist nach wie vor eiskalt in Sonneberg. Zeit für eine kurze Mittagspause. Im Backhaus Müller kostet der riesige Salat inklusive Brötchen 8.50 Euro. Gestärkt und aufgewärmt geht’s wieder auf die Gasse. Ein älteres Ehepaar läuft vorbei.
Robert Sesselmann, den 2023 gewählten AfD-Landrat, sehe man selten, sagt die Frau. Seine Wahlversprechen habe er nicht eingelöst, ergänzt ihr Mann. Der Euro sei noch da, «die ganzen Migranten» auch und Deutschland nach wie vor Teil der EU.
Man könnte meinen, die beiden seien überzeugte Anhänger der AfD, doch dem ist nicht so. Das Paar hat AfD-Landrat Robert Sesselmann nicht gewählt. Bei der Bundestagswahl geben sie ihre Stimme einer «demokratische Partei», möchten jedoch nicht verraten, welcher.
Dass die AfD gemäss Prognosen auf 20 Prozent Wähleranteil zusteuert, sei die Schuld der gescheiterten Ampel-Koalition. «Weil die nichts auf die Reihe brachte.» Gleichzeitig sei es schlecht, dass keine andere Partei mit der AfD zusammenarbeiten wolle:
Bei Louis Räder im SPD-Büro in Sonneberg ist über eine Stunde vergangen. An der Wand hängt nicht Olaf Scholz oder Gerhard Schröder, sondern ein Portrait von Willy Brandt, dem ersten Bundeskanzler der SPD. Mit Brandt als Kanzler erreichte die SPD bei der Bundestagswahl 1972 das beste Resultat aller bisherigen Zeiten und überflügelte erstmals die CDU. Zustände, von denen Louis Räder nur träumen kann.
Der Alltag sieht anders aus. Bei der Bundestagswahl hat der SPD-Direktkandidat im Wahlkreis, zu dem Sonneberg gehört, keine Chance. Das Mandat geht aller Voraussicht nach an den Vertreter der AfD.
Hinzu kommt der CDU-Antrag zur Verschärfung der Asylpolitik, der Ende Januar auch dank Stimmen der AfD zustande gekommen ist. Trotz aller Beteuerungen von Kanzlerkandidat Merz, dass die Brandmauer bestehen bleibe und eine Regierungszusammenarbeit mit der AfD unter seiner Führung ausgeschlossen sei.
SPD-Politiker Räder bezeichnet Merz’ Vorgehen als «Fehlentscheidung». Er sagt: «Merz ist nach der Abstimmung zwar zurückgerudert, gleichzeitig ist er aber auch ein Machtmensch. Wenn er dadurch eine Mehrheit bekommen kann, wird er auch weiterhin Stimmen von der AfD in Kauf nehmen. Deswegen sollte er nicht Bundeskanzler werden.»
Sorgen, dass es künftig auch im Sonneberger Kreisrat zu Vorstössen kommt, welche die CDU und die AfD (zusammen 24 von 40 Sitzen) gemeinsam unterstützen, macht sich Räder nicht. «So wie ich die CDU in unserem Landkreis einschätze, ist sie schon sehr stark gegen die Positionen der AfD.»
Räder muss los. Zum Abschied sagt er: «Auch wenn es im Moment schwierig ist: Ich mache gerne Politik für die SPD.»
*Namen von der Redaktion geändert.