Die Entscheidung ist eigentlich gefallen, bislang aber ist die grosse Bodenoffensive der israelischen Armee im Gazastreifen ausgeblieben. So warten an der Grenze im Süden des Landes Tausende israelische Soldaten, Panzer und anderes militärisches Gerät auf Einsatzbefehle.
Dass sie bislang nicht in den Gazastreifen eingedrungen sind, liegt an verschiedenen Faktoren. Einer von ihnen ist offenbar die Bitte des amerikanischen Präsidenten: Joe Biden hatte in einem Telefonat mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu am Sonntag seine Sorge vor einem regionalen Flächenbrand zum Ausdruck gebracht.
Israel has the right to defend itself. We must make sure they have what they need to protect their people today and always.
— President Biden (@POTUS) October 22, 2023
At the same time, Prime Minister Netanyahu and I have discussed how Israel must operate by the laws of war. That means protecting civilians in combat as…
Dabei steckt der israelische Premier in einer Zwickmühle. Einerseits muss er nach aussen verbindlich bleiben, immer die Mahnungen aus dem Westen beachten, die vor zu vielen zivilen Opfern warnen. Andererseits muss er Stärke beweisen, dafür sorgen, das Versprechen seines Landes einzulösen, niemals Geiseln in den Händen von Terroristen zu belassen – und damit zugleich von den drängenden Fragen abzulenken, die ihn ganz persönlich betreffen:
Wieso haben die israelischen Geheimdienste vor dem Angriff der Terroristen am 7. Oktober so kläglich versagt? Warum hat die Regierung das Land auf eine solche Attacke nicht besser vorbereitet?
Die Aufarbeitung dieser Fragen steht in Israel noch am Anfang. Aber schon jetzt ist klar, dass Netanjahu politisch auf einem Schleudersitz sitzt. Und je später die Bodenoffensive startet, desto mehr gewinnt die Debatte um die Schuldfrage in Israel an Fahrt.
Dabei geht es nicht um die Schuld für den Terrorangriff, denn der Schuldige ist klar: die Hamas. Nur die Islamisten sind dafür verantwortlich, dass sie am 7. Oktober die Grenze durchdrangen und wahllos israelische Zivilisten ermordeten.
Doch für eine längerfristige Vereitelung des Terrors greift die militärische Perspektive zu kurz. In der israelischen Debatte geht es eben auch darum, das Land vor terroristischen Angriff zu schützen und dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen – vor allem auch im Gazastreifen.
Deswegen machen seine Kritiker in Israel Netanjahu für Versäumnisse vor der Terrorattacke verantwortlich. Er und seine rechtsextremistischen Koalitionspartner hätten diesen Krieg zu verantworten, heisst es. Natürlich sieht ein Grossteil der Menschen in Israel die Hamas als gefährliche Terrororganisation. Es gibt jedoch auch in der israelischen Bevölkerung keinen Zweifel darüber, dass die israelische Armee eigentlich so stark ist, dass sie derartige Angriffe verhindern müsste.
Die Hamas-Attacke kam nach über 70 Jahren Nahostkonflikt – anders als beispielsweise der Angriff am 11. September 2001 für die USA – nicht überraschend. Im Gegenteil: Israel steht seit seiner Staatsgründung 1948 ständig unter Beschuss, muss sich verteidigen, war dementsprechend oft gut vorbereitet.
Aber diesmal nicht. Dass eben diese Verteidigung nicht gelungen ist, bringt Netanjahu innenpolitisch in die Schusslinie.
Für die Kritik gibt es unterschiedliche Gründe:
In den vergangenen Monaten und Jahren haben sich die israelischen und palästinensischen Führungen immer mehr radikalisiert, was auch der Hamas mutmasslich weiteren Zulauf beschert hat. Daran trägt der israelische Ministerpräsident eine Teilschuld. Immerhin gilt der 74-Jährige als Gegner einer Zweistaatenlösung, weil er durch einen palästinensischen Staat mit sechs Millionen Einwohnern israelische Sicherheitsinteressen gefährdet sieht.
Netanjahus Strategie im Umgang mit den Palästinensern war stets: teile und herrsche. Je mehr sich die palästinensische Autonomiebehörde um die Fatah im Westjordanland und die Hamas im Gazastreifen gegenseitig bekämpfen, desto besser sei es für Israel. So die Lesart von Netanjahu.
Die israelische Regierung verwaltete deshalb den Status quo im Gazastreifen, ohne allerdings eine Perspektive zu entwickeln, wie es mit dem palästinensischen Staat weitergehen soll. Ideen gab es immer wieder in der israelischen Politik – die wurden allerdings immer schnell wieder verworfen.
An Lösungen bestand auch bei den israelischen Führungen vor Netanjahu in den vergangenen Jahren kein Interesse. Israel erkannte nach 2007 de facto die Herrschaft der Hamas über den Gazastreifen an – obwohl diese mit der libanesischen Terrororganisation Hisbollah verbündet war. Aber dadurch gelang es, das palästinensische Streben nach Eigenstaatlichkeit zu untergraben. Mit Erfolg. Über Ägypten führte man ausserdem immer wieder Verhandlungen mit den Hamas in Friedenszeiten.
Israel hatte sich also auf ein Konzept versteift, das quasi regelmässige Phasen mit geringfügigen Auseinandersetzungen strategisch einplante. Es gab oft Krieg, die Hamas schoss Raketen, Israel flog Luftangriffe im Gazastreifen, Israel drehte den Palästinensern den Geldhahn zu, öffnete ihn aber dann immer wieder. Es waren blutige Auseinandersetzungen, an die man sich in der Region zu gewöhnen schien – trotz des Terrors. Schon vor vierzig Jahren erklärte Netanjahu, man könne mit arabischen Staaten Frieden schliessen, ohne dass die Sache mit den Palästinensern gelöst sei.
Ebendieses Interesse an einer politischen Lösung wurde in den vergangenen Jahren noch geringer. Nach seinem Wahlsieg im November 2022 schmiedete Netanjahu eine Koalition aus Ultraorthodoxen, national-religiösen Siedlern und Politikern aus seiner eigenen rechtspopulistischen Likud-Partei.
Es ist klar, dass die Lage um den Gazastreifen keine Dauerlösung sein konnte, immer wieder eskalierte die Gewalt. Doch Netanjahu schien vor allem daran interessiert zu sein, an der Macht zu bleiben. Wenn er diese verliert, muss er eine Anklage wegen Korruption fürchten. Aber um sie zu erhalten, ist er zum Getriebenen der rechts-religiösen Kräfte in seiner Regierung geworden.
Die Folgen sind verheerend: Israel annektiert zwar nicht offiziell Gebiete im Westjordanland, aber es fliesst Geld an ultraorthodoxe Siedler. Palästinensische Terroristen ermorden im Westjordanland immer mehr Zivilisten, die israelische Armee geht immer härter dagegen vor. Im Frühjahr 2023 griffen extremistische Siedler das palästinensische Dorf Huwara an, ein Kommandeur der israelischen Armee bezeichnete den Angriff als «Pogrom». Bezalel Smotrich, seines Zeichens Siedler, Israels Finanzminister und Minister für zivile Angelegenheiten in den besetzten Gebieten, forderte daraufhin die «Auslöschung Huwaras».
Diese Gründe führen zu der Frage, warum die Geheimdienste geschlafen haben. Durch die zunehmende Eskalation im Westjordanland wurden immer mehr Soldaten von der Greze zu Gaza ins Westjordanland verlegt. Hinzu kam die Unruhe um Netanjahus umstrittene Justizreform, wobei Soldaten ankündigten, deswegen nicht mehr zum Dienst erscheinen zu wollen. Die Hamas hat also Israel in einer ohnehin schon chaotischen Zeit getroffen.
«Es war uns trotz einer Reihe von Massnahmen leider nicht möglich, eine ausreichende Warnung herauszubringen, die eine Vereitelung des Angriffs ermöglicht hätte», erklärte Shin-Bet-Direktor Ronen Bar kurz nach dem Terrorangriff der Hamas. «Als Leiter der Organisation liegt die Verantwortung bei mir.» Dazu werde es Untersuchungen geben. «Jetzt kämpfen wir.»
Diese Äusserung ist durchaus bemerkenswert. Denn der Inlandsgeheimdienst Shin-Bet und Mossad hatten noch im Frühjahr davor gewarnt, dass Israel durch die Spaltung der Gesellschaft vor einer Katastrophe stehe. Netanjahu hörte nicht hin, in seiner Regierung wurde das als linkes Gedankengut abgetan.
Somit ist letztlich völlig unklar, ob Netanjahu diese Versäumnisse politisch überleben kann. Die Mehrheit der Nahost-Experten findet darauf eine klare Antwort: Nein. «Wir sind die Regierung zu dem Zeitpunkt, als es passiert ist. Wir sind verantwortlich», sagte Bildungsminister Joaw Kisch am 12. Oktober im israelischen Fernsehen. Auch die Armee sei verantwortlich. Aber diese Stimme ist bisher eine Minderheit in der israelischen Regierung.
Es tut mir leid für alle, die noch mehr Gewalt sehen möchten. Sie dürfen mich jetzt auch wieder herunterblitzen.
Leid tun mir alle die nicht Netanjahu und seine Bande gewählt haben und jetzt dafpr mit ihrem Leben bezahlen mussten und noch müssen.