Seit Anfang des Jahres erlebt Israel eine neue Intifada. Und zwar eine seiner eigenen Bürger. So beschreibt es zumindest der Journalist Thomas Friedman der «New York Times». Grund dafür ist eine geplante Justizreform der Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu (Bibi). Kritikerinnen und Kritiker sehen die Gewaltenteilung und somit die Demokratie in Gefahr. Manche warnen gar vor der schleichenden Einführung einer Diktatur.
Aufgrund heftiger Proteste ist die Abstimmung über die Reform Ende März auf Juli verschoben worden. Noch immer ist Bibi von seinem umstrittenen Vorhaben überzeugt, das in seinen Augen «die Demokratie stärken» würde. Mit dieser Aussage hat er erneute Proteste im Land befeuert, die teils gewaltsam endeten.
Was du zur aktuellen Lage in Israel wissen willst:
Netanjahus Regierung will das Höchste Gericht im Land gezielt schwächen. Ihrer Ansicht nach hat die unabhängige Justiz zu viel Einfluss auf politische Entscheidungen. Ein zentrales Gesetz des Projekts soll Anfang nächster Woche verabschiedet werden.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat die von seiner Regierung geplante Schwächung der Justiz am Donnerstagabend verteidigt. Netanjahu betonte, dass weiterhin Anstrengungen unternommen würden, um eine Einigung über das Gesetzesvorhaben zu erzielen. Wie diese Bemühungen aussehen, liess er offen.
Dem Höchsten Gericht wäre es dann nicht mehr möglich, Entscheidungen der Regierung oder einzelner Minister als «unangemessen» zu bewerten. Kritiker befürchteten, dass es zu willkürlichen Entlassungen von Gegnern der Regierungspolitik in entscheidenden Positionen kommen könnte.
Die Abstimmung über die Reform wird voraussichtlich frühstens am Montag stattfinden.
Der Staat Israel hat keine schriftliche Verfassung und fusst stattdessen auf einer Sammlung von Grundgesetzen. Daher kommt dem Höchsten Gericht eine besondere Bedeutung bei der Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten zu.
Dem Höchsten Gericht wäre es im Falle einer Verabschiedung des Gesetzes nicht mehr möglich, Entscheidungen der Regierung oder einzelner Minister als «unangemessen» zu bewerten. Zu Jahresbeginn musste Netanjahu seinen Innenminister entlassen, weil die Richter dessen Ernennung wegen seiner kriminellen Vergangenheit als «unangemessen» eingestuft hatten.
Beobachter erwarten, dass die Koalition dies mit dem neuen Gesetz rückgängig machen will. Kritiker befürchten zudem, dass es zu willkürlichen Entlassungen von Gegnern der Regierungspolitik in entscheidenden Positionen kommen könnte.
Oppositionsführer Jair Lapid teilte auf Twitter mit: «Wir haben heute Abend einen Regierungschef gesehen, der das Land auseinanderreisst, anstelle es zu vereinen. Der lügt, anstelle die Wahrheit zu sagen.»
In seiner Rede wies der konservative Regierungschef die Befürchtungen einer schleichenden Diktatur als «absurd» zurück. Das Gesetz würde die Demokratie sogar stärken, so Netanyahu. Änderungen an dem Gesetzestext seien weiter möglich.
Kritikerinnen und Kritiker halten dies jedoch für unwahrscheinlich. Bei einer Änderung müsste erneut der Justizausschuss zustimmen. Das Gesetz könnte dann wohl nicht, wie von der Regierung angestrebt, bis zum Beginn der Sitzungspause Ende Juli verabschiedet werden.
Netanyahu widersetzt sich mit seiner Rede gegen den Appell von US-Präsident Joe Binden, die Pläne nicht zu überstürzen. «Konsens in kontroversen Politikbereichen zu finden bedeutet, sich die Zeit zu nehmen, die es braucht», teilt Biden im Interview mit der Zeitung «New York Times» mit. Für grosse Veränderungen sei das unverzichtbar, sagt Israels wichtiger Verbündeter.
Kurz vor einer entscheidenden Abstimmung im Parlament hat sich Israels Verteidigungsminister Joav Galant im Streit über den Umbau der Justiz eingeschaltet. «Galant ergreift aktuell Massnahmen, um einen breiten Konsens zu erreichen und die Sicherheit des Staates Israel zu gewährleisten», hiess es am Freitagabend auf Nachfrage aus seinem Büro.
Berichten zufolge will er bei Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mehr Zeit für einen Kompromiss mit den Gegnern bewirken.
Netanjahu hatte Galant im März entlassen, nachdem dieser öffentlich zu einem Stopp der Pläne aufgerufen und davor gewarnt hatte, dass die nationale Sicherheit schweren Schaden nehmen könnte. Auf seine Entlassung folgten heftige Proteste und ein Generalstreik. Der Regierungschef setzte damals die Pläne aus, Galants Entlassung wurde später rückgängig gemacht.
Druck auf Netanjahu kommt vor allem auch aus dem Militär. Am Freitag hatten mehr als 1000 Reservisten der Luftwaffe in einem Brief angekündigt, nicht mehr zum Dienst zu erscheinen, sollte das Gesetz verabschiedet werden. Das Schreiben löste innerhalb des Militärs Medienberichten zufolge die Sorge aus, in dem Bereich nicht mehr voll einsatzfähig zu sein.
Mehrere Minister aus der Regierung verurteilten die Drohung der Reservisten und betonten, sich nicht darauf einzulassen. Finanzminister Bezalel Smotrich schrieb auf Facebook:
Auch mehr als Tausend Ärzte drohten mit Arbeitsniederlegungen. Sie befürchten durch die Justizreform negative Auswirkungen auf die Wirtschaft, Demokratie und Sicherheit des Landes, und damit auch auf das Gesundheitssystem.
Nach der Ansprache strömten Hunderte Menschen im Land auf die Strasse für eine «Nacht des Widerstands» auf die Strassen. In der Millionenmetropole Tel Aviv am Mittelmeer blockierten Demonstranten zeitweise eine zentrale Autobahn. Auf der Fahrbahn seien Gegenstände in Brand gesetzt wurden.
Auch in anderen Städten störten wütende Demonstranten den Verkehr. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Beamte auf Pferden ein, um die Menge auseinander zu treiben. Es sei Medienberichten zufolge zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Demonstrierenden gekommen. Mehr als ein Dutzend Menschen seien festgenommen worden.
Um gegen Netanyahus Vorhaben zu demonstrieren, sind am Dienstagabend zahlreiche Menschen zu einem Marsch von Tel Aviv in die heilige Stadt Jerusalem aufgebrochen. Dem Organisationskomitee zufolge haben mehr als 10'000 Menschen an dem Marsch beteiligt. Am Samstag wollen das Parlament in Jerusalem erreichen.
Wir werden am Samstagabend in Jerusalem ankommen und rund um die Knesset Zelte aufschlagen, sagte ein Demonstrant gegenüber AFP. Weiter sagt er:
🔥🇮🇱 - Thousands of #Israeli protesters who left #TelAviv continue to march on foot towards #Jerusalem in protest of judicial reform.
— 🔥🗞The Informant (@theinformantofc) July 21, 2023
This march ends tomorrow in front of the #Knesset, where tents are planned to be set up for an indefinite period. pic.twitter.com/TxPHO78WGp
Israeli protesters on a 4-day March from Tel Aviv to Jerusalem in the blistering heat, demonstrating against the government’s judicial overhaul. pic.twitter.com/sB3NQyMneg
— Jotam Confino (@mrconfino) July 21, 2023
Am Wochenende sind weitere Kundgebungen und Protestaktionen von Gegnerinnen und Gegnern des Justizumbaus angekündigt. Auch die Befürworterinnen und Befürworter planen am Sonntag in Tel Aviv eine Demonstration.
(cst, mit Material der sda und dpa)
Ein Mittel der Empörung Ausdruck zu geben ist u.A. Autobahnen zu blockieren. Nicht mit friedlichen Menschen, die sich festkleben, sondern massiv. Ich denke, dass ein Grossteil der Bevölkerung diese Aktionen positiv sehen.
Derweil in der Schweiz: ich sitze 20 Min. länger im Stau, das ist Nötigung.