Dirk Bosse erinnert sich noch ganz genau an jenen Tag, als die Braunschweiger Informatik-Studentin Petra P. vor 31 Jahren spurlos verschwand. «Es war damals ein ganz grosser Fall», erzählt er im Interview mit der Braunschweiger Zeitung. Wobei er damals noch ein ganz junger Beamter gewesen sei und wegen des Falls seinen Urlaub nicht antreten durfte.
«Dass dieser Fall jemals aufgeklärt wird, hätte ich mir nicht träumen lassen», erzählt Bosse, heute der Erste Kriminalhauptkommissar der 250'000-Einwohner-Stadt im deutschen Bundesland Niedersachsen. «Sie lebend vor mir zu sehen, war ein ganz gravierendes Erlebnis für mich. Damals dachten alle: Sie ist mit Sicherheit tot.»
Petra P. hatte ihr Verschwinden genau geplant. Sie wollte es so aussehen lassen, als sei ihr etwas zugestossen. Dieser Plan ging auf. Zwar legte ein Mann, der bereits ein 14-jähriges Mädchen auf dem Gewissen hatte, das Geständnis ab, sie ermordet zu haben. Doch es stellte sich als falsch heraus. Und ihre Eltern liessen sie vier Jahre später für tot erklären.
Erst vor wenigen Wochen tauchte Petra P. in Düsseldorf wieder aus der Anonymität auf – allerdings alles andere als absichtlich. Wegen Einbruchspuren an ihrer Haustür schlug ein Nachbar im Mietshaus Alarm. Als sie sich gegenüber den Beamten nicht ausweisen konnte und diese hartnäckig blieben, gestand sie schliesslich, die Vermisste von damals zu sein.
Es war das erste Mal in all den Jahren gewesen, dass sie sich hatte ausweisen müssen. Und das, obwohl sie stets in verschiedenen deutschen Grossstädten gelebt hatte, immer unter falschem Namen. Ihre Tarnung war damit so unangekündigt aufgeflogen, wie einem eine hungrige Katze zuläuft.
Dirk Bosse nahm selbst das Telefon ab, als sich die Kollegen aus Düsseldorf meldeten. «Ich sagte dem Kollegen: Sag mir doch mal den Namen der Frau. Als er ‹Petra› sagte, war das ein Gefühl, als würde mir der Boden unter den Füssen weggezogen. Es war einfach unfassbar.»
Um sie zweifelsfrei zu identifizieren, fuhr Bosse mit Oberkommissar Holger Kunkel nach Düsseldorf. Bosse erzählt: «Schon als sie auf uns zukam, war ich mir sicher, dass sie es ist – obwohl ich ja nur das Fahndungsfoto von 1984 kannte. Nach der mehrstündigen Vernehmung blieb kein Zweifel: Sie ist es!»
Petra P. sei distanziert gewesen. «Sie braucht vermutlich eine Weile, um alles zu verarbeiten. Immerhin ist ihr ganzes Lebenskonstrukt zusammengebrochen», schätzt der Kriminalhauptkommissar ihre Situation ein. «Als sie nach dem Einbruch mehrere Tage nichts weiter von der Polizei hörte, dachte sie wohl, da komme nichts mehr – bis wir uns bei ihr meldeten.» Warum sie sich heimlich davonstahl wie ein Ausbrecher aus einem Gefängnis, begründete sie nicht.
Der Vater von Petra P. ist unterdessen gestorben. Doch ihre Mutter und ihr Bruder würden sie gern wiedersehen und haben ihr auch einen Brief geschrieben. Die Langzeitvermisste möchte zwar weiterhin keinen Kontakt zur Familie. Ungewöhnlicherweise wollen die Beamten es aber nicht dabei bewenden lassen: «Wir wollen unbedingt versuchen, die Frau mit ihrer Familie wieder zusammenzuführen», führt Bosse aus.
Das sieht der Kommissar, der sich nach dem Tsunami in Thailand 2004 freiwillig meldete, um dort menschliche Überreste zu identifizieren, als menschliche Verpflichtung an. «Der Fall hat uns alle tief im Herzen bewegt. Sitzen Sie mal einer 80-jährigen Frau gegenüber und erzählen ihr, dass ihre Tochter wieder da ist – wo sie doch dachte, dass die Tochter seit mehr als 30 Jahren tot ist. Das berührt auch einen Mordermittler.»
Damals fahndeten nicht nur die Ermittler in Braunschweig und Wolfsburg (dort lebten die Eltern) nach Petra P., nach einem Beitrag in der TV-Sendung «Aktenzeichen XY ... ungelöst» Anfang 2015 suchte ganz Deutschland nach der jungen Studentin, die ihre Diplomarbeit fast vollendet hatte. Petra P. hat das offensichtlich erstaunt. «Sie hat es uns erst gar nicht geglaubt, dass nach ihr gesucht worden war», erzählt Bosse.
Mit einer Unterlassungssünde haben die Braunschweiger übrigens dafür gesorgt, dass Petra P. schnell identifiziert werden konnte. Bosse: «Bei uns riefen die Kollegen an, um zu melden, dass wir offenbar eine ‹Löschung› vergessen hätten.»
Denn eigentlich würden vermisste Personen, wenn sie amtlich für tot erklärt werden, aus dem System gelöscht. Doch Bosse hatte eine leise Hoffnung nie aufgegeben, dass die junge Frau, die im Lauf der 31 Jahre hätte Grossmutter werden können, immer noch lebt. «Wir hatten uns aber immer gewehrt, diesen Fall zu löschen. Zum Glück.» (aargauerzeitung.ch)